Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

04.12.2000   12:05   +Feedback

Ein Fall von Rinderwahn

Der Graf und die Zeitmaschine

Wer führt wen am Nasenring über den Pariser Platz?

Wir werden wieder betrogen und belogen. Zuerst hieß es jahrelang, deutsche Kälber, Kühe und Rinder wären gesund, jetzt ist die Rede von zwei kranken Tieren,

They're coming to take me away, hihi, haha, hoho…

die notgeschlachtet wurden - eine deutsche Kuh auf den Azoren und eine in Schleswig-Holstein - und von drei Verdachtsfällen von Rinderwahn bei Menschen. Doch die “mad cow disease” ist längst weiter verbreitet, als es die sogenannten Experten zugeben. Es ist, wie so oft, eine Frage der Erhebung und Bewertung. Wenn irgendwo im Osten ein Afrikaner von einer Glatzen-Gang zusammen geschlagen wird, sagt die Polizei auch, “ein fremdenfeindlicher oder rechtsextremer Tathintergrund” sei nicht ohne weiteres erkennbar, es werde “in alle Richtungen ermittelt”, vor allem gegen das vermeintliche Opfer, das möglicherweise immer wieder mit dem Kopf gegen eine Mauer gerannt ist, was die Neger gerne tun, wenn sie nicht grade Kokosnüsse von den Palmen holen, um hinterher anständige Deutsche anzuschmieren. So ist es auch beim sogenannten “Rinderwahn” - wo er nicht diagnostiziert wird, da kann es ihn nicht geben.

Doch wer ein Auge für die Symptome hat und vor der Wahrheit nicht zurück schreckt, sieht die Zeichen überall.

Wie anders, wenn nicht mit akutem Rinderwahn, wäre es zu erklären, daß sich zehn erwachsene Menschen in einen häßlichen Container einschließen lassen, wo sie Tag und Nacht von ein paar Spannern und Sadisten überwacht werden; daß sie bereit sind, sich 5o oder 1oo Tage in der eigenen Kacke zu wälzen, auf dem Klo zu

They're coming to take me away, hihi, haha, hoho…

wichsen, das Gelaber der anderen anzuhören, nur um  an Ende mit Harry in einer Disko in Bergisch-Gladbach aufzutreten? Ein klarer Fall von Rinderwahn. Und wenn Sibylle Tönnies eine NPD-Demo, die von der Polizei eskortiert wird, besucht und hinterher über einen Marsch von KZ-Häftlingen fabuliert, die “sich in Schutzhaft befinden” und denen nichts als der Stolz bleibt, “Deutsche zu sein”, dann kann das nur daher kommen, daß sie zu oft Tartar zum Frühstück gegessen hat. Wie übrigens auch die Jungs, die “Deutschland den Deutschen!” schreien, aber eigentlich “Hackepeter für alle!” meinen.

Hat man erstmal begriffen, daß der Rinderwahn das soziale und intellektuelle Verhalten von Menschen verändert, bevor die ersten physischen Defekte auftreten, dann kann man vieles erklären, das sonst unerklärbar bleiben würde. Zum Beispiel einen Brief, den Otto Graf Lambsdorff dem Vorsitzenden des Zentralrates der Juden in Deutschland, Paul Spiegel, geschrieben hat, am 13. November 2ooo, genau vier Tage nach der Großen Vaterländischen Kundgebung am Brandenburger Tor, bei der Spiegel gesprochen hatte. Lambsdorffs Brief hat den folgenden Wortlaut:

They're coming to take me away, hihi, haha, hoho…

Sehr geehrter Herr Spiegel,

die Demonstration in Berlin war ein eindrucksvolles Bekenntnis, so wie es sich die Veranstalter und die Erstunterzeichner des Aufrufs gewünscht haben.

Bundespräsident Rau hat die Absichten und Gefühle der überwiegenden Mehrheit in unserem Lande ebenso klar wie ausgewogen formuliert.

Ich fand es enttäuschend, dass Sie diese Gelegenheit zu einer parteipolitisch gezielten Polemik benutzt haben. Es war unfair, weil die Kritisierten sich nicht zur Wehr setzen konnten. Und es war unangemessen, weil es die Würde des Gedenkens an den 9. November 1938 verletzte.

Ich habe Ignatz Bubis an diesem Tage vermisst.

Mit freundlichen Grüßen Lambsdorff

Würde man nach einer vernünftigen Erklärung für einen solchen Brief suchen, müßte man annehmen, Lambsdorff sei in einer Zeitmaschine unterwegs gewesen und an einer falschen Station ausgestiegen. Zu einer Zeit, als sich deutsche Herrenmenschen und Rittergutsbesitzer ihre Juden noch aussuchen konnten: den kräftigen Kutscher für die Arbeit mit den Pferden, den sensiblen Intellektuellen für die Unterhaltung in der Bibliothek, das sinnliche aber doch schüchterne Mädchen für den Spaß nach der Fasanenjagd und den exotischen Knaben fürs Kasino, mit dem man es treiben konnte, ohne sich dem Vorwurf der Rassenschande auszusetzen.

They're coming to take me away, hihi, haha, hoho…

So könnte man sich einen solchen Brief erklären, wenn es eine Zeitmaschine gäbe, die Graf Lambsdorff von Zeit zu Zeit benutzen würde. Ihm ruhig zu erklären, die Zeiten, da sich die Deutschen ihre Juden nach Bedarf aussuchen konnten, wären vorbei, wäre dagegen vollkommen sinnlos, denn das würde auch Lambsdorff grundsätzlich nicht bestreiten. Nur daß ausgerechnet am 9. November, dem höchsten deutschen Feiertag, der falsche Jude reden und dabei “unfair” und “unangemessen” brave Deutsche anpöbeln durfte, das geht dem Grafen doch ein wenig zu weit. Weswegen er sich Ignatz Bubis zurück wünscht.

Hier dürfte nicht Hackepeter oder Tartar die Ursache der Disfunktionalität sein, sondern vermutlich Carpaccio, fein geschnitten und auf KPM-Tellern serviert, aber genauso BSE-kontaminert. Leider müssen wir in der Zukunft mit noch mehr Ausfällen solcher Art rechnen. Weswegen der Kampf gegen den Rinderwahn auch ein Gebot der politischen Hygiene ist. Denn es kann wirklich jeden erwischen, wie der folgende Briefwechsel mit Günter Nooke zeigt, früher ein Bündnisgrüner, heute Mitglied der CDU.

henryk m. broder berlin, 16.11.2ooo

herrn günter nooke, mdb berlin

lieber herr nooke,

in der berliner zeitung vom 14.11. fand ich eine meldung über äußerungen, die sie nach der großen demo am brandenburger tor gemacht haben sollen. da wird ihnen der satz zugeschrieben, paul spiegel habe sich “schlicht unanständig” benommen, er habe mit seinem auftreten “der demokratie keinen gefallen getan”, die cdu lasse sich nicht “am nasenring über den pariser platz führen”. ich muss zugeben, ich bin ein wenig irritiert und will bei ihnen erstmal anfragen, ob sie so etwas wirklich gesagt haben oder ob es sich um eines jener “mißverständnisse” handelt, wie sie derzeit überall gehandelt werden. natürlich kann man und können sie alles und jeden kritisieren. sie können eine regierung kritisieren, die praktisch zu einer demonstration gegen sich selbst aufruft, weil es ihr offenbar an den nötigen mitteln mangelt, mit dem rechtsextremismus und seinen trägern fertig zu werden, sie können auch die organisatoren der demo kritisieren, weil sie den vertreter einer mini-minderheit, die kaum ein promille der bevölkerung ausmacht, als festredner verpflichten, und nicht einen bischof, einen gewerkschafter oder wenigstens den präsidenten des ADAC, sie können auch paul spiegel kritisieren, der mit seinem auftritt bei vielen den eindruck gefördert haben könnte, die bekämpfung des rechtsextremismus sei vor allem eine aufgabe der juden und nicht der arischen mehrheit im lande. das alles wären, finde ich, kritikwürdige punkte. nur verstehe ich nicht, so viel mühe ich mir auch gebe, warum sich paul spiegel “unanständig” verhalten haben soll, warum er der demokratie “keinen gefallen” getan und die cdu “am nasenring” vorgeführt hat. vor allem der letzte punkt verlangt, finde ich, nach einer präzisierung. wenn irgendjemand die cdu am nasenring vorgeführt hat, dann war es doch ein schatzmeister, der “jüdische nachlässe” erfunden hat, um illegale geldgeschäfte zu vertuschen, ebenso ein landesvorsitzender, der bis heute nicht begriffen hat, warum seine forderung “kinder statt inder” eine rassistische äußerung ist, die nach “lebensborn” riecht, und schließlich auch ein ehemaliger kanzler, der sich souverän über geltendes recht hinwegsetzt, weil er sich für das gesetz hält. diese drei (herrn koch, herrn kanther u.a. nicht mitgezählt) haben die cdu “am nasenring” vorgeführt, und zwar nicht nur am pariser platz, sondern gleich bundesweit. sie, lieber herr nooke, als ehemaliger bürgerrechtler, müssten das doch ganz klar sehen. warum sie sich dann paul spiegel vornehmen, ist mir vollkommen unverständlich, vorausgesetzt, sie haben es wirklich getan. für eine aufklärung wäre ich ihnen sehr dankbar.

mit besten grüßen

Broder

 

They're coming to take me away, hihi, haha, hoho…

Günter Nooke Mitglied des Deutschen Bundestages Berlin, 17. November 2000

Herrn Henryk M. Broder

 

Lieber Herr Broder,

vielen Dank für Ihr Fax vom 16.11.2000. Ihrer Bitte um Aufklärung, was es mit meinen Äußerungen zu Paul Spiegel auf sich hat, will ich gern nachkommen.

Also: Ich glaube, dass es überflüssig ist, einem so erfahrenen Publizisten wie Ihnen zu erklären, wie mitunter Schlagzeilen produziert werden. Ich hatte für den 14.11.2000 Journalisten zu einem Pressefrühstück eingeladen, wie jeden Monat. Hauptschwerpunkt dieses Hintergrundgespräches war die Demonstration vom 9. November und die im Nachgang dazu öffentlich vorgetragene Kritik. Die Worte unanständig bzw. die Einlassung, wonach sich die CDU “nicht am Nasenring über den Pariser Platz” führen lassen sollte, sind in der Tat gefallen. Aber natürlich sind diese in einem Kontext gesprochen worden, der in der Regel für Journalisten zu lang oder kompliziert sein dürfte, als dass er mitgenannt würde. Sie dürfen mir glauben, dass ich Paul Spiegel niemals als unanständig bezeichnet habe, sondern diese Äußerung bezog sich lediglich auf eine Passage seiner Rede. In dieser Passage stellte Paul Spiegel, übrigens nicht nur nach meinem Empfinden, einen direkten Zusammenhang zwischen der CDU und den Anschlägen auf Synagogen her, indem er rhetorisch fragte, ob es etwa “Leitkultur” sei, wenn auf Synagogen Anschläge verübt und Ausländer gejagt würden. Damit entstand der Eindruck, das Wort “Leitkultur” habe zu diesen Anschlägen direkt beigetragen. Und das, lieber Herr Broder, entspricht doch nun wirklich nicht den Tatsachen, abgesehen davon, dass das Wort “Leitkultur” von Friedrich Merz zu einem Zeitpunkt in die Debatte geworfen wurde, als schon längst Anschläge verübt worden waren.

Ich kenne Sie als scharfsinnigen Beobachter und Kommentator der politischen Szene in diesem Land. Sie und selbstverständlich auch Paul Spiegel werden doch nicht ernsthaft annehmen wollen, dass diese unsäglichen Rechtsradikalen, die Anschläge auf Synagogen verüben und/oder Ausländer jagen, erst des Stichwortes “Leitkultur” bedurften, um ihre Untaten auszuführen. Selbstverständlich kann man darüber streiten, ob der Begriff “Leitkultur” den Problemen gerecht wird. Ihnen wird nicht verborgen geblieben sein, dass innerhalb der CDU darüber heftig diskutiert wird. Ich kann Ihnen das auch seitens der Bundestagsfraktion bestätigen.

Nun hat es zur Vorbereitung der Demonstration ein Gespräch zwischen den Präsidien des Zentralrats der Juden und der CDU gegebene. Danach trat Paul Spiegel vor die Presse und erklärte, er habe jetzt verstanden, was mit “Leitkultur” gemeint sei. Deshalb war es um so überraschender, dass er diesen Begriff dann bei seiner Rede am 9. November in der o.g. Konnotation gebrauchte. Das empfand ich als unanständig.

Das Motto der Demonstration hieß: “Für Mitmenschlichkeit und Toleranz”. Die ursprüng1iche Intention war es ja, allgemein “Gegen Rechts” zu demonstrieren. Sie können sich gewiss auch vorstellen, dass es bei CDU/CSU Empfindlichkeiten gibt, wenn die selbsternannte “Gemeinschaft der Demokraten”, bestehend aus SPD, Grünen, FDP und PDS die CDU zwingen will, nur “Gegen Rechts” zu demonstrieren und nicht “Gegen Rechtsradikale”. Wie groß wäre eigentlich die “Gemeinschaft der Demokraten” in diesem Land, wenn die CDU allgemein “Gegen Links” und ausdrücklich nicht “Gegen Linksradikale” demonstrieren wollte? Deshalb war es ja ein wirklich guter Vorschlag, und CDU/CSU sind dem Zentralrat der Juden außerordentlich dankbar dafür, das Gedenken an die Reichspogromnacht zum Anlass zu nehmen, unter dem Motto “Für Mitmenschlichkeit und Toleranz” auch gegen die aktuellen Ereignisse der Synagogenschändungen und ausländerfeindlichen Übergriffe zu demonstrieren.

Wenn Sie mich in Ihrem Brief direkt auf meine Rolle als ehemaligen Bürgerrechtler ansprechen, dann will ich auch aus dieser Sicht versuchen, aufzuklären: Für mich ist es nicht hinnehmbar, dass SPD, Grüne, FDP und PDS allein definieren wollen, wer “anständig” oder wirklich “demokratisch” ist. Dagegen werde ich mich als CDU-Politiker und ehemaliger Bürgerrechtler politisch wehren. Aber ich war enttäuscht, dass Paul Spiegel auf der Demo “Für Mitmenschlichkeit und Toleranz” eine Rede hielt, in der er einen politischen Angriff lediglich gegen die CDU vortrug; und das nach dem einvernehmlichen Gespräch mit dem CDU-Präsidium, nach dem er vor die Presse getreten war mit der Aussage, er habe jetzt verstanden, was hinter dem Begriff “Leitkultur” stecke. Selbst wenn Paul Spiegel den Begriff “deutsche Leitkultur” als intolerant empfindet, was natürlich sein gutes Recht ist, dann stellt sich doch die Frage, ob sich dann eine solche Autorität, wie es der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland ist, nicht gleichzeitig auch zu Intoleranz bei anderen Parteien oder gesellschaftlichen Organisationen positionieren sollte. Paul Spiegel und auch Sie sind viel zu klug, um nicht zu wissen, dass beispielsweise die PDS eine Menge Leute in ihren Reihen hat, die jahrzehntelang Antisemitismus und Holocaust nicht nur verharmlost, sondern bewusst aus dem offiziellen Geschichtsbild ausgeblendet haben. Die Ergebnisse dieser katastrophalen Erziehung, übrigens auch in Bezug auf Ausländer, kann man in Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern studieren.

Als ehemaliger Bürgerrechtler der DDR betone ich bewusst gerade dieses Beispiel. Man könnte ebenso über das Verhältnis der Westgrünen zu Israel referieren, aber da würde ich gerade bei Ihnen offene Türen einrennen. Jedoch demonstrierten am 9. November auch viele derjenigen, die lediglich mit den alten Parolen gegen “Rechts” und in Palästinensertücher verhüllt vor allem CDU/CSU als das eigentlich Böse attackieren wollten, viele auf Sichtweite von Paul Spiegel. Müssen sich nicht diese - gelinde gesagt – Intoleranten gestärkt fühlen, wenn letzterer lediglich die CDU angreift? Diese Überlegung hatte mich zu der Äußerung gebracht, Paul Spiegel habe wegen der o.g. Passage seiner Rede der Demokratie “keinen Gefallen” getan.

Die von mir gebrauchte Formulierung, die CDU wolle sich nicht “am Nasenring über den Pariser Platz” führen lassen, mag vielleicht ein wenig drastisch erscheinen. Aber von mir wurde bei dem o.g. Hintergrundgespräch niemals die Formulierung gebraucht, Paul Spiegel habe dies so vorgehabt. Mir ging es um einen symbolträchtigen Begriff, mit dem ich meinen Unmut und Ärger über die einseitige Interpretation von “Toleranz” zum Ausdruck bringen wollte.

Schließlich möchte ich Ihnen noch sagen, dass ich mir der Schwierigkeiten sehr wohl bewusst bin, in die sich die CDU wegen der Finanzaffären selbst gebracht hat. Es ist, lieber Herr Broder, Ihr gutes Recht und entspricht auch Ihrem beneidenswerten Talent zu scharfzüngiger Polemik, wenn Sie das Gleichnis vom “Nasenring” in diesen Zusammenhang bringen. Ich hoffe aber auch, dass Sie mich nicht persönlich für verunglückte Wahlkampfparolen wie den “Kinder statt Inder”-Slogan verantwortlich machen. Und ich hoffe weiter, dass es auch CDU-Politikern, die keinen Anteil an den Finanzaffären der Partei haben, in Zukunft möglich sein wird, sich kritisch zu anderen Themen unseres Landes zu äußern.

Liebe Grüße Günter Nooke

They're coming to take me away, hihi, haha, hoho…

broder, berlin, 2o.11.2ooo

herrn günter nooke, mdb berlin

lieber herr nooke,

vielen dank für ihren brief vom 17.11.; ich kann es mir vorstellen, wie viel sie in diesen tagen zu tun haben und finde es keine selbstverständlichkeit, dass sie sich die zeit nehmen, mir so ausführlich zu antworten. nehmen sie es mir deswegen bitte nicht übel, wenn ich ihnen sage, dass mich ihre antwort nicht weniger irritiert als der anlass unserer korresponenz: sie beantworten fragen, die nicht gestellt wurden, stellen lappalien richtig und vermeiden es, den kern der sache anzusprechen. es liegt also, mal wieder, an den medien, die ihre äußerungen nicht ganz falsch wieder gegeben, aber doch aus dem kontext gerissen haben. ich muss, glaube ich, einem so erfahrenen politiker wie ihnen nicht erklären, dass politiker gut daran täten, sich so klar zu äußern, dass sie nicht missverstanden werden, statt vieldeutigkeiten zu produzieren, um sich hinterher darauf berufen zu können, sie seien missverstanden worden. zum beispiel: sie schreiben, sie hätten nicht paul spiegel als “unanständig” bezeichnet, sondern nur eine passage seiner rede, in der er einen direkten zusammenhang zwischen der cdu und anschlägen auf synagogen herstellte. während sie also sehr penibel zwischen einem anständigen redner und einer unanständigen rede unterscheiden, sind sie nicht in der lage zwischen einer anständigen partei und den unanständigen äußerungen eines mediokren parteimanagers zu unterscheiden, der aus mangel an anderen vorzeigbaren meriten sich als populist zu positionieren versucht, und das auch noch mit hilfe eines begriffs, den er bei bassam tibi, einem beute-deutschen, geklaut hat. im übrigen hat spiegel weder einen direkten noch einen indirekten zusammenhang “zwischen der cdu und den anschlägen auf synagogen” hergestellt, sondern nur darauf hingewiesen, dass der begriff deutsche leitkultur eine hohle phrase ist, die beliebig gefüllt werden kann. 2oo.ooo menschen haben ihn offenbar richtig verstanden, nur sie nicht? sie, lieber herr nooke, weisen mich darauf hin, dass das wort “leitkultur” von ihrem parteifreund merz erst zu einem zeitpunkt in die debatte geworfen wurde, als bereits anschläge verübt worden waren. zuerst waren also die anschläge da, dann kam die leitkultur auf den tisch. das kann ich nur so verstehen, dass auch sie, herr nooke, einen kausalen zusammenhang zwischen dem einen und dem anderen sehen würden, wenn herr merz zuerst von der leitkultur gesprochen hätte und dann die anschläge passiert wären. sie, herr nooke, gehen mit dieser leisen unterstellung weiter als herr spiegel mit seiner frage gegangen ist. die zeitliche reihenfolge ist zudem nicht entscheidend. es wäre nicht das erste mal, dass die politik der straße hinterher läuft und merz wäre nicht der erste politiker, der auf einen bereits fahrenden zug aufspringt und sogleich anfängt, den schaffner zu spielen. lassen sie es mich, auch auf die gefahr hin, dass sie wieder beleidigt sind, mit einem krassen beispiel sagen, das nichts mit der cdu zu tun hat. bevor die nürnberger “gesetze” erlassen wurden, gab es bereits antisemitische übergriffe. es wäre sehr verwegen, darauf zu bestehen, die einen hätten mit den anderen nichts zu tun. was zwischen den präsidien der cdu und des zentralrates besprochen, welcher deal dabei ausgehandelt wurde, spielt überhaupt keine rolle. ich fand diese muppet-show albern und überflüssig, weil sich die cdu nicht gegenüber den juden rechtfertigen muss, mit welchem stuss sie in die bütt geht, und weil die juden nicht die instanz sind, um über den unsinn zu richten, den die cdu für gesellschaftspolitik hält. allerdings haben sie offenbar eine ganz andere pressekonferenz gesehen als ich. in der fassung, die ich in der tagesschau gesehen habe, sagte paul spiegel, er habe schwierigkeiten mit der vorsilbe “leit”, wenn es nur “deutsche kultur” hieße, wäre alles in ordnung. was natürlich auch ein beknacktes statement war, getragen von dem willen, der cdu eine brücke zu bauen, über die sie dann doch nicht gehen wollte. wenn ich sie richtig verstanden und nicht wieder aus dem kontext gerissen habe, nehmen sie es paul spiegel übel, dass er sich nicht an die absprachen gehalten hat, die zu der demo unter dem motto “für mitmenschlichkeit und toleranz” geführt haben. sie als ehemaliger bürgerrechtler sind sauer, weil einer, der kein politiker ist, aus der reihe tanzt und einfach sagt, was er denkt, statt sich als sprachrohr und ethnisches feigenbatt benutzen zu lassen? herzlichen glückwunsch, lieber herr nooke, sie sind wirklich im vereinten deutschland angekommen. sie sollten es paul spiegel übel nehmen, dass er “für mitmenschlichkeit und toleranz” aufsteht. es gibt keine “mitmenschlichkeit”, ebenso wie es keine “mitbürger” gibt, und es geht nicht darum, für toleranz zu agieren, sondern gegen die toleranz, die in diesem land gegenüber dem rechtsradikalen pack praktiziert wird. das sind alles sprachlich kleine, aber faktisch wichtige unterschiede. sie haben natürlich recht, wenn sie sich in der gesellschaft der pds nicht wohl fühlen. ein blick ins “neue deutschland” raubt einem alle illusionen, wie “anständig” diese partei ist, die mit der sed nichts zu tun hat und für die gesellschaftlichen zustände in der post-ddr nicht verantwortlich ist. es ist vollkommen absurd, wenn sich vertreter der pds an die spitze der gegen-rechts-bewegung zu setzen versuchen. aber sie sind nicht die einzigen böcke, die sich als gärtner verkleidet haben. ihr partei-halbfreund stoiber hat eben erst vor den gefahren der “durchrassten gesellschaft” gewarnt. dennoch geniert er sich nicht, am 9. november gegen die rechtsradikalen zu demonstrieren, womit er nur die doofen glatzen meint, nicht aber die vor- und nachdenker eines rassisch reinen deutschlands. ebenso der bayerische innenminister beckmann: er möchte die npd verbieten, aber beim parteitag der csu erklärt er, was er unter leitkultur versteht: dass es “keine minarette in einem oberbayerischen dorf” geben solle. sonst nämlich haben die oberbayerischen dörfler keine sorgen. wenn sie als jude in deutschland etwas gegen den antisemitismus tun wollen, dann haben sie nur zwei optionen; mit den rechten antisemiten gegen die linken, die sich manchmal auch als “antizionisten” kostümieren, oder mit den linken antisemiten gegen die rechten. sowohl die eine seite hat ihre jüdischen helfer wie die andere. und wenn es dann darauf ankommt, eine große parteiübergreifende demo “für mitmenschlichkeit und toleranz” zu organisieren, können sich die teilnehmenden fraktionen nur auf einen juden als redner einigen, weil der quasi eine exterritoriale figur ist. die deutschen kommen ohne die juden nicht aus. mal sind sie der volksfeind, der die deutschen zusammen schweißt, ein andermal eine art klammer, die es der cdu möglich macht, gemeinsam mit der pds aufzutreten. in jedem fall tragen sie entscheidend zur bildung einer volksgemeinschaft bei. leider hat paul spiegel die regeln dieses spiels nicht begriffen, aber auch er wird sie eines tages begreifen und dann den kampf gegen den antisemitismus den anständigen ariern überlassen. auch sie, lieber herr nooke, hätten nichts gegen “eine autorität, wie es der präsident des zentralrates der juden ist”, als redner gehabt, wenn sich diese autorität nur schön brav verhalten und damit sowohl der demokratie wie auch ihrer partei einen gefallen hätte. jetzt sind sie böse, nicht weil sie “am nasenring” vorgeführt wurden, denn das besorgen schon ihre parteifreunde von diestel über koch und kanther bis rüttgers und wittgenstein. sie sind böse, weil sie von einem juden vorgeführt wurden, der sich an die ihm zugedachte rolle als neutrum germaniae nicht gehalten hat. ja, es hätt so eine schöne einheitsfeier werden können, wenn sie von einem juden nicht versaut worden wäre. schließlich: ich mache sie weder für die finanzaffären der cdu noch für äußerungen wie “kinder statt inder” verantwortlich. aber es wäre nicht schlecht, wenn leute wie sie, statt sich über den lieben paul spiegel aufzuregen, für einen “aufstand der anständigen” in der cdu sorgen und die rassisten aus der partei fegen würden. wäre schon mal ein guter anfang. und ein kleiner beitrag zu einer kultur, die sich nicht im deutschsein erschöpft.

mit besten grüßen

Broder

4.12.2000

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