Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

20.01.2002   12:06   +Feedback

USA-Tagebuch

Nation im Alarm-Zustand USA-Tagebuch Winter 2001/02

Advent im Zeichen des Terrorismus Dein Sohn, der Taliban-Kämpfer

Was die Situation so absurd macht: Es passiert immer alles gleichzeitig. Im Radio spielen alle Sender den ganzen Tag den Ohrwurm “Christmas Eve In Washington”, eine grauenhafte Schnulze, aber genau das Richtige für die Jahresendzeit. Es geht um “Peace, Love and Laughter”, Frieden, Liebe und Heiterkeit, und auf Fox News steht Geraldo Rivera live und direkt vor der Festung Tora Bora an der afghanisch-pakistanischen Grenze und sagt: “Wir bringen den Krieg zu den bösen Buben. Es wird brutal, es wird hässlich, aber es muss sein.”

Bin-Laden-Souvernirs in Washington: “Wanted dead or alive” (Foto: Henryk M. Broder)

Es ist später Abend in Washington und genau 7:45 Uhr am frühen Morgen in Afghanistan, hinter Rivera sieht man einen Panzer und ein paar afghanische Krieger, die um das Fahrzeug herumstehen, als hätten sie es gerade geparkt. Nur Rivera ist ziemlich aufgeregt. “Da! Eine B 52!” ruft er und zeigt zum Himmel. Die Kamera folgt seiner Hand, man sieht einen Punkt, der einen hellblauen Streifen nach sich zieht. Und dann erzählt Rivera, wie nahe er an den Zielen steht, die gleich gebombt werden und dass die Piloten aufpassen müssen, nicht die eigenen Leute zu treffen. “Das war Geraldo Rivera, der einzige Reporter vor der Festung Tora Bora heute”, sagt hinterher die Moderatorin im Studio.

Sebst chinesische Reparaturschneider werben mit US-Fähnchen (Foto: Henryk M. Broder)

Rivera sieht wie Michel Friedman aus und er bewegt sich wie Andreas Türck. Früher hat er Talk Shows mit kreischenden Teenagern und zänkischen Hausfrauen moderiert, jetzt nimmt er am Krieg teil. Er macht, was er schon immer gemacht hat, nur ein paar Stufen höher auf der Risiko-Skala. Im Grunde “Business as usual” unter erschwerten Bedingungen mit zehn Stunden Zeitverschiebung.

Das gilt auch für die Zuschauer und die Verbraucher der Nachrichten. “America at War” bedeutet an der Basis: Mitmachen können ohne wirklich teilzunehmen. Chinesische Reparaturschneider und alternative Buchläden schmücken ihre Schaufenster mit kleinen US-Fähnchen - je größer das Geschäft, umso größer auch die Fahne. Die Supermarktkette K-Mart schaltet ganzseitige Anzeigen in den Tageszeitungen und bietet Armeeangehörigen und deren Angehörigen zu Weihnachten zehn Prozent Rabatt für alle Artikel an.

Alternativ, aber patriotisch: ein Buchladen in Washington (Foto: Henryk M. Broder)

Bei Hecht’s gibt es “American Ornaments” zu Sonderpreisen für alle: Anstecker in Herzform oder als Fahne für 19,99 Dollar und Christbaumkugeln (“God Bless Amerika”) für 9,99 Dollar. Handy-Benutzer bekommen bei AT&T für 24,99 Dollar eine Stars-and-Stripes-Wechselhülle für ihre Nokia-Geräte. Ambulante Händler verkaufen T-Shirts mit dem Kopf von Osama Bin Laden (“Dead or alive”) für vier Dollar pro Stück, drei Stück kosten nur zehn Dollar.

Aber es ist nicht alles nur Kitsch und Geschäftemacherei im Gefolge einer Katastrophe. Es gibt auch Dinge, die einem wirklich unter die Haut gehen, ganz anders als “Christmas Eve in Washington” oder Geraldo Rivera vor Tora Bora. Zum Beispiel dreizehn kurze Erinnerungen an Menschen, aufgeschrieben auf einer Seite der “New York Times”; sie hatten Pech und waren am 11. September zur falschen Zeit am falschen Ort. Oder eine Geschichte über Waisen, die noch nicht geboren sind, “Kinder, die ihre Väter nie kennen lernen werden”.

Stars & Stripes auf Schritt und Tritt (Foto: Henryk M. Broder)

Und dann gibt es noch etwas, eine Art von Humor, um den man die Amerikaner nur beneiden kann. Kaum wurde bekannt, dass unter den gefangenen Taliban-Kämpfern auch drei US-Bürger waren, kursierte schon ein 11-Punkte-Test, wie Eltern beizeiten erkennen können, dass ihr Sohn ein Taliban werden möchte. Klare Warnzeichen sind: Er weigert sich, seine Hölle aufzuräumen, er hört nur noch Cat Stevens, er nennt seine Geschwister “Die Ungläubigen”, und er besteht darauf, jede Nacht in einem anderen Zimmer zu schlafen.

20.1.2002

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