Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

20.01.2002   12:06   +Feedback

USA-Tagebuch

Nation im Alarm-Zustand USA-Tagebuch Winter 2001/02

Single-Treff Schleppen und Abschleppenam “Ground Zero”

“To Protect and Serve” ist das Motto der Polizei von Los Angeles, L.A.P.D., “beschützen und dienen”. “To Serve and Flirt” hieß eine Geschichte, die vor ein paar Tagen in der “New York Times” erschien, über ein Lokal in der Nähe von “Ground Zero”, das rund um die Uhr kostenlos Essen an Feuerwehrleute und Polizisten ausgibt.

Geschrieben wurde sie nicht von einem Reporter des Blattes, sondern von einer Hausfrau, Victoria Balfour, die als Freiwillige einen Monat bei “Nino’s” an der Canal Street gearbeitet hatte.

New York: Auch Bikinis können den “Stars And Stripes” nicht ausweichen (Foto: Henryk M. Broder)

Es war wahrscheinlich die aufregendste und die spannendste Zeit ihres Lebens. Nicht nur die Feuerwehrleute und die Polizisten, die auf “Ground Zero” arbeiten, stehen bei Nino’s Schlange, auch die Freiwilligen, die sie bedienen wollen, müssen sich anstellen. Es gibt eine lange Warteliste, denn es melden sich mehr, als eingesetzt werden können. Auf einen Mann kommen zwanzig Frauen, die Männer arbeiten in der Küche, die Frauen im Lokal, dort, wo die Feuerwehrleute und die Polizisten kommen und gehen.

Victoria Balfour, 47 und nicht verheiratet, bekam eine Schürze und einen Platz an der Würstchentheke. Neben ihr stand eine 28-jährige Buchhalterin aus New Jersey, der es völlig egal war, was auf die Teller kam. “Schau dir nur diese Kerle an, ich will einen Polizisten abschleppen.” Sie hatte keine Hemmungen, sich später neben einen FBI-Mann zu setzen, der nur sein Frühstück an der Bar essen wollte.

Ein Outfit wie Pamela Anderson

Nicht alle Frauen, schreibt Victoria Balfour, waren dermaßen an Eroberungen interessiert. Aber im Laufe der Zeit erlebte sie viele, die sich so aufführten, “als wäre Nino’s eine Bar für Singles”. Da war eine 25 Jahre alte Mitarbeiterin einer Filmproduktion, die extra aus Los Angeles nach New York einflog, um sich bei Nino’s zum Dienst zu melden. Oder eine 50-jährige Kosmetikerin, die in dem Lokal einen “State Trooper” aus Ithaca zu finden hoffte, den sie an Thanksgiving irgendwo getroffen hatte. Eine 35-jährige Schauspielerin, die an ihrem ersten Tag gleich von drei Polizisten angebaggert wurde, war hin und weg: “Warum kann es nicht überall in der Szene so zugehen wie hier?” Eine Freiwillige erschien in einem Outfit, das zu Pamela Anderson gepasst hätte: eng, ärmellos und mit tiefem Ausschnitt.

Während die weiblichen Freiwilligen enorme Energien entfalteten, um einen Mann in Uniform abzukriegen, waren die Feuerwehrleute so müde, dass sie “nichts mitbekamen”. Sie saßen “still zusammen, die Augen geschlossen, zu erschöpft und aufgewühlt, um irgendwas anzufangen”.

Die Mischung aus “Trauer und sexueller Spannung”, schreibt Victoria Balfour, war so stark, dass sie “mich mehr anstrengte als die eigentliche Arbeit”. Sie hatte anfangs nicht vor, sich auf “Dating” einzulassen, aber sie schaffte es kaum, “dem Wettbewerb zu entkommen”. Schon an ihrem dritten Tag bei Nino’s überlegte sie, ob sie sich eine andere Frisur zulegen und eine schicke Baseballmütze statt der Papierhütchen aufsetzen soll. Eines Tages wollten fünf Männer ihre Telefonnummer haben. “Ich hatte das Gefühl, was diese Männer brauchen, ist eine Mutter.” Sie gab ihre Telefonnummer einem Polizisten, aber als der tatsächlich anrief und nur über die Toten, die er gesehen hatte, sprechen konnte, da wurde ihr klar, “dass ich mit ihm nicht ausgehen konnte”.

“Ihre Augen sagen etwas anderes”

Inzwischen hat Victoria Balfour noch mehr begriffen: Wie sehr sich die Männer auch anstrengen, cool aufzutreten, und wie sehr sie darauf bestehen, dass sie nur ihren Job erledigen, “ihre Augen sagen etwas anderes: Es ist schön, jemand zu sehen, der keine Uniform trägt”. So erleben die New Yorker Feuerwehrleute und Polizisten, schon immer die Helden der Stadt, eine Konjunktur, mit der sie wenig anfangen können. Und die Frauen, die “to serve and flirt” angetreten sind, werden am Ende ihres Einsatzes mehr Hamburger serviert als Männer verputzt haben. Dafür waren sie noch nie so nahe am Leben wie in der Nähe des Massengrabs von “Ground Zero”.

Seit Freud wissen wir, dass Todesnähe auf Sexualität anregend wirkt. Dass Menschen in Gefahrensituationen gerne zusammenrücken und Trost suchen, ist auch bekannt. Und je größer die Katastrophe, desto größer das Bedürfnis, dem Leben einen Sinn zu geben.

Im Juni 2002 rechnen alle in New York mit einem Baby-Boom. Helen Fisher, Anthropologin an der Rutgers University und Autorin des Buches “Anatomie der Liebe”, findet das ganz natürlich. “Frauen suchen nach Sicherheit und Schutz, Männer nach Intimität.” Nur bei Nino’s an der Canal Street, gleich neben den Trümmern des World Trade Center, ist es umgekehrt.

20.1.2002

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