Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

21.10.2010   09:44   +Feedback

Neue deutsche Debattenkultur

Als die Schweizer vor einem Jahr in einem Referendum dem Bau von Minaretten eine Absage erteilten, war die deutsche Öffentlichkeit ob des Ergebnisses der Abstimmung überrascht und empört. So viel Intoleranz habe man den Schweizern nicht zugetraut, direkte Demokratie hin oder her, es gebe Fragen, über die man das Volk nicht abstimmen lassen könne, etwa über die Grenzen der Religionsfreiheit. Das sei Sache des Gesetzgebers.

Die vielen Kritiker aus den Parteien und den Feuilletons gaben sich der Hoffnung hin, die Entscheidung der Schweizer Bürger werde vom Europäischen Gerichtshof aufgehoben und damit der gute Ruf der Schweiz gerettet werden. Nun spielt sich mitten in Deutschland ein ähnliches Drama ab, wenn auch nicht ganz nach Schweizer Vorbild.

In Stuttgart protestieren und rebellieren Tausende von Bürgern gegen den Bau eines neuen unterirdischen Bahnhofs. Es kam zu schweren Auseinandersetzungen zwischen den Demonstranten und der Polizei, wie Deutschland sie seit den Studentenunruhen Ende der 60er Jahre nicht mehr erlebt hatte. Die Demonstranten riefen «Wir sind das Volk!», die Polizei setzte Wasserwerfer und Tränengas ein.

Um den Konflikt nicht weiter eskalieren zu lassen, wurde von der Landesregierung ein «Schlichter» eingesetzt, der zwischen den «Konfliktparteien» vermitteln sollte: der pensionierte Politiker Heiner Geissler.

Der trat als Erstes vor die Kameras und verkündete einen «Baustopp», worauf die Regierung von Baden-Württemberg erklärte, dazu sei er nicht autorisiert gewesen. Dann gab Geissler bekannt, man werde erst einmal darüber verhandeln, worüber man verhandeln werde, und dabei versuchen, sich auf einen «Fahrplan» für die Verhandlungen zu einigen.

Geissler verdankt seine Berufung als «Schlichter» seiner Doppelmitgliedschaft bei der CDU und bei Attac; das ist etwa so, als würde sich ein Metzgermeister bei der Tierschutzorganisation Peta (People for the Ethical Treatment of Animals) engagieren. Geissler schafft diesen Spagat mühelos, denn bei der CDU hat er nichts mehr zu sagen, und bei Attac nimmt man jeden, der eine Patenschaft für einen von der Klimakatastrophe bedrohten Polarbären übernommen hat. Und so «schlichtet» er nun zwischen der Landesregierung, die ihn berufen hat, und den Gegnern des Projekts «Stuttgart 21», als ginge es darum, «Arbeitnehmer» und «Arbeitgeber», die sich bei Tarifverhandlungen verrannt haben, zu einem Kompromiss zu bewegen. Dabei weiss niemand, wie ein solcher «Kompromiss» aussehen könnte, denn zwischen «Bauen» und «Nichtbauen» kann es keinen dritten Weg geben. Als Erfolg gilt bereits, dass über das Verhandeln verhandelt wird. Man fühlt sich an den alten Witz erinnert, in dem zwei Psychoanalytiker eine lange und ergebnislose Unterhaltung mit den Worten beenden: «Gut, dass wir darüber gesprochen haben!»

Dabei sind diejenigen, die auf Seiten der Gegner von «Stuttgart 21» am Verhandlungstisch sitzen, von niemand gewählt oder legitimiert worden. Sie haben sich selbst berufen. Was bei einer Delegiertenkonferenz der Jungen Grünen angehen mag, gerät zur Absurdität, wenn es um ein Projekt geht, das seit über fünfzehn Jahren geplant wird und alle Verwaltungs- und Gerichtsinstanzen passiert hat. Nun soll es «zurück auf Anfang» gehen.

«Ein nachträglicher Volksentscheid stellt ein ernsthaftes Problem für die Verwirklichung von Infrastrukturprojekten dar», sagt der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, «irgendwann muss hier ein Schlusspunkt gesetzt werden, spätestens dann, wenn die höchsten Gerichte über das Projekt entschieden haben. Ansonsten verlieren wir unsere Zukunftsfähigkeit.»

Der Umgang mit «Stuttgart 21» steht für die neue deutsche Debattenkultur, die von Kommissionen und runden Tischen dominiert wird. Und von Politikern wie Jürgen Trittin, der vor ein paar Tagen erklärte: «Wir können den Menschen versprechen, dass wir alles dafür tun, den Neubau zu verhindern.» So wie die Grünen bei ihrer Gründung mit dem Versprechen angetreten sind, alles zu tun, um die Einführung der Computer zu verhindern. Damals war Jürgen Trittin noch beim Kommunistischen Bund. Heute ist er bei den Grünen. Er hat es weit gebracht. Und sich doch nicht von der Stelle bewegt.

C: Die Weltwoche 42/10

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