Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

16.11.2006   23:22   +Feedback

Hungarians make me sick!

Gastbeitrag von Monika Romhányi
“Die Welt ist verrückt und ich werde es
auch bald, wenn es so weiter geht.”

Da ich die 33-jährige Tochter magyarischer Immigranten bin, verfolge
ich die Vorgänge in Ungarn wieder mit wachsender Aufmerksamkeit. Meine
Ur-Landsleute machen mich langsam krank, zudem bin ich hin- und
hergerissen. Eine Zeitlang habe ich von Viktor Orbán viel gehalten, nach
Medienberichten hat er sich wie seine Partei FIDESZ in den letzten Jahren
verändert, eine Verwandlung vom Liberalismus zu einem teilweise radikalen
Nationalismus. Ich selbst bin nicht die große Expertin und bin auf
verschiedene Aussagen angewiesen (Medien, youtube, Verwandte).

Ungarische Medien und Menschen neigen offenbar zu Übertreibungen. Die Linken gegen
die Rechten und vice versa. Diskussionen und Streitigkeiten gehören zu
einer Demokratie, aber wie es in Ungarn gehandhabt wird, ist einer
modernen Demokratie unwürdig. Den Ungarn mangelt es an politischer Kultur.
Die sozialistische MSZP spielt zur Zeit auch eine sehr negative Rolle.
Dabei beziehe ich mich nicht auf die berühmt-berüchtigte Rede, die ich
im Original gehört habe. Dort redet Gyurcsány unzählige Male von Ungarn
als „kurva ország“ was so viel bedeutet wie „Scheißland“. Bush würde es
im Leben nicht einfallen, die USA als „fucking country“ zu bezeichnen.
Auch sonst legt Gy. eine höchst ordinäre Sprache an den Tag, aber sei
es wie es sei… Nein, seit September demonstrieren Menschen gegen
Gyurcsány und verlangen seine Absetzung. Bei der überwältigenden Mehrheit
handelt es sich um normale Menschen. Leider gibt es auch Skinheads, die
randalieren und rechtsextreme Sprüche grölen. Traurigerweise ist der
Antisemitismus nicht nur als latent, sondern als virulent zu bezeichnen.

Mittlerweile beschäftigt sich auch die EU mit der ungarischen Polizei,
die Waffen benutzt, die nicht erlaubt sind. Die Polizisten schossen
zwar nicht scharf, brachten niemanden um, aber sie beförderten zahlreiche
Menschen, die nicht gewalttätig waren, ins Krankenhaus, da sie auf am
Boden Liegende immer wieder eintraten, zudem verletzten sie Unzählige
mit Gummigeschossen, ein Mann verlor dadurch sogar ein Auge. Bezüglich
Gyurcsány habe ich eine ambivalente Haltung. Seit gestern allerdings eine
ziemlich negative, denn er entließ den verantwortlichen Polizeichef
nicht. Ihm scheint es ziemlich egal zu sein, wenn Unschuldige schwer
verletzt werden. Wenn es Nazis getroffen hätte, würde ich auch sagen: okay.

Aber so viele unschuldige Demonstranten… Dabei wirkt er im TV und auf
den offiziellen und Privataufnahmen auf youtube regelrecht sympathisch.
In den youtube-Foren wird er von rechtsradikalen Ungarn angefeindet,
wobei es nicht allein um seine Politik und seine Vergangenheit als
kommunistischer Funktionär geht, sondern um seine jüdische Herkunft. Ich weiß
nicht, ob er tatsächlich Jude oder Christ ist, interessiert mich auch
nicht besonders. Auf youtube existieren Videos; die mir Bauchschmerzen
bereiten: Eins mit dem Titel „Gyurcsány´s execution“ nach Art von
Computerkillerspielen, die so beliebt beim Nachwuchs des Prekariats sind. Auf
anderen Filmchen sieht man den ungarischen Ministerpräsidenten, im
Hintergrund „Musik“ mit Texten, indem es darum geht, wie die Leiche des
„ermordeten dreckigen Juden“ Gyurcsány den Hunden zum Fraß vorgeworfen
wird. Das ist bestimmt nicht repräsentativ für die Ungarn, auch nicht für
die Antisemiten unter ihnen, aber es nimmt nichts von der
Schrecklichkeit solcher Hetze. Nun muss ich den von mir in letzter Zeit meist
zitiertesten Satz von Max Liebermann wieder anbringen: Ich kann gar nicht so
viel fressen wie ich kotzen möchte.

Und obwohl ich Gyurcsány wegen
seiner kommunistischen Vergangenheit ablehne und ihn wegen seiner Mitschuld an den
Verletzungen unschuldiger Menschen sehr verurteile, sehe ich mich auf
der anderen Seite in der unwürdigen und undankbaren Rolle der
Verteidigerin eben dieses Ferenc Gyurcsány. Die Welt ist verrückt und ich werde es
auch bald, wenn es so weiter geht. Links, rechts, MSZP, FIDESZ: alle
meschugge. Früher dachte ich, FIDESZ sei die richtige Partei mit den
richtigen Typen. Und die Árpádflaggen? Sind sie tatsächlich nur ein
Requisit patriotisch gesinnter Magyaren oder aggressiver rechtsextremistischer
antisemitischer Ungarn? Oder trifft beides zu? Ist Orbán tatsächlich
zum dumpfen Nationalisten mutiert? Ist Gyurcsány wirklich nur ein
antidemokratischer Lügner, der extrem machtbesessen ist?
Diese Situation ist mir nicht egal, obwohl es mir lieber wäre, ich
würde keinen Gedanken an die Lage der Ungarn verschwenden müssen. Doch
aufgrund meiner Herkunft habe ich doch eine gewisse Verantwortung mich mit
dieser kranken Demokratie magyarischer Art herumzuschlagen.

 

 

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