Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

28.07.2007   20:26   +Feedback

Shlomo Avineri: Kein Staat im Werden

Viele sind überzeugt, dass der palästinensische Extremismus dafür verantwortlich ist, dass die Palästinenser keinen Staat haben: da sie den UN-Teilungsplan von 1947 zurückgewiesen haben, da sie die Angebote von Barak und Clinton in Camp David im Jahr 2000 ausgeschlagen haben und da sie immer wieder zum Terror zurückgekehrt sind. All dies ist richtig, aber ein Blick auf die palästinensische Geschichte enthüllt ein tiefer liegendes strukturelles Versagen, das sie während ihrer gesamten Dauer begleitet: das Unvermögen, Institutionen aufzubauen, die auf einem nationalen Konsens beruhen und die Grundlage eines Staates zu bilden in der Lage wären.

Dieses Versagen begann bereits zur Zeit des britischen Mandats, das Arabern und Juden die Schaffung von autonomen politischen Strukturen für Erziehung, Wirtschaft, Entwicklung und Sozialfürsorge ermöglichte. Der Yishuv (die vorstaatliche jüdische Gemeinschaft im Land Israel) nutzte dies, um ein weit verzweigtes System der Selbstverwaltung zu errichten, das zum „Staat im Werden“ wurde: Es wurden Wahlen abgehalten, zu denen mehr als zwölf Parteien anraten, es wurden Erziehungs- und Wohlfahrtsprogramme sowie vernetzte Gemeinde- und Dorfstrukturen entwickelt, die die Mehrheit der jüdischen Bevölkerung in sich aufnahmen. Der Va’ad Leumi (Nationalkomitee) und die Jewish Agency bildeten die Grundlage, auf der die Institutionen des Staates Israel aufgebaut wurden.

Der arabischen Öffentlichkeit gelang es im Gegensatz dazu nicht, ein paralleles System von Institutionen zu entwickeln. „Das Arabische Hohe Komitee“ war nie mehr als eine Versammlung von Honoratioren, die ohne Wahl aufgrund regionaler und familiärer Herkunft (Clan) ernannt wurden und lediglich sich selbst repräsentierte. Der Rat baute zu keiner Zeit Erziehungs- und Wohlfahrtseinrichtungen auf, und ein politisches Parteiensystem entstand nie.

Deutlich zum Ausdruck kam diese Schwäche in den Jahren 1936 bis 1939, dem gemäß der palästinensischen Narrative „großen Aufstand“ gegen die britische Herrschaft. Ein gemeinsames Kommando für die Revolte wurde nie geschaffen, vielmehr artete diese in eine arabischen Bruderkrieg aus, in dem bewaffnete Milizen sich gegenseitig umbrachten: die Anhänger des Muftis und die Familie Husseini gegen die Milizen des Nashashibi-Clans. In diesem Kampf starben mehr Araber als von den Briten oder Juden getötet wurden.

Ein ähnliches Bild entstand im Anschluss an den UN-Teilungsplan. Die Palästinenser waren - außer einigen Kommunisten - vereint in ihrer Opposition gegen die Teilung, bildeten jedoch nie eine geschlossene politische und militärische Führung. Deren Fehlen war verantwortlich für viele ihrer Schwächen in den Jahren 1947 bis 1948. Dem Arabischen Hohen Rat standen niemals effektive Verwaltungsstrukturen zur Verfügung, und viele seiner Mitglieder flohen beim Ausbruch der Gewalt aus dem Land. Das Kämpfen wurde lokalen Führern überlassen.

Was wir nun in Gaza beobachten – die Unfähigkeit der beiden palästinensischen Fraktionen, innerhalb eines gemeinsamen Rahmens zusammenzuarbeiten -, ist nichts als die Wiederholung des historischen Versagens der Palästinenser. Die gegenwärtige Ausrede der Palästinenser besteht darin, dass es schwierig ist, Regierungsinstitutionen aufzubauen unter den Bedingungen von territorialer Aufspaltung, Flüchtlingen und israelischer Besatzung. All dies ist wahr – aber irrelevant. Jede Nationalbewegung ist schweren Bedingungen ausgesetzt, die für gewöhnlich mit der Existenz unter fremder Herrschaft zu tun haben. Es ist schwer, sich schwierigere Bedingungen vorzustellen als die, denen der hebräische Yishuv im Land Israel in den 30er und 40er Jahren ausgesetzt war: der Aufstieg des Nationalsozialismus, die Entfremdung von Seiten der Briten, die Bedrohungen durch den Zweiten Weltkrieg und die Shoah. Aber darin besteht die Prüfung einer Nationalbewegung: ob sie fähig ist, eine Krise in einen historischen Kairos umzuwandeln.

Die arabische Welt als Ganzes zeichnet sich nicht durch die Errichtung von Institutionen aus, und gewiss nicht von demokratischen Institutionen. Bislang hat die palästinensische Bewegung dieses pan-arabische Erbe nicht überwunden. In der näheren Zukunft wird dies ihre wichtigste Prüfung sein. Wenn sie sich nicht der historischen Bürde bewusst wird, die sie auf ihren Schultern trägt, und sich von ihr befreit, werden die legitimen Wünsche der Palästinenser nach Unabhängigkeit an den Felsen jener schweren inneren Wirklichkeit zerschellen, die ihre Bewegung von Anfang an begleitet hat.

Shlomo Avineri ist Professor emeritus für Politische Wissenschaften an der Hebräischen Universität Jerusalem.

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