Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

01.06.2009   18:10   +Feedback

Antisemitismusfreie Zone

Die zweitälteste Synagoge der Neuen Welt steht auf der Antillen-Insel Curaçao, einer früheren holländischen Kolonie. Das Eiland vor der Küste Venezuelas ist eine von Antisemitismus freie Zone. Für die kleine jüdische Gemeinde hat das Vorteile und Nachteile.

“Excuse me, are you Jewish?”, fragt der Mann links neben uns. Leon trägt eine seidene Kippa auf dem Kopf, ich habe einen Panama-Hut an, wir halten uns an je einem Sidur fest und tun so, als wüssten wir, wie man das Gebetbuch benutzen muss. Es ist der Beginn von Schawuot. Vor mehr als 3000 Jahren haben die Israeliten mitten in der Sinaiwüste die Thora und die Zehn Gebote empfangen und seitdem feiern die Juden in aller Welt das Ereignis, als wäre es vergangene Woche passiert.

Und die Juden von Willemstad auf Curaçao feiern mit. Es ist eine winzige Gemeinde mit gerade noch 180 Mitgliedern. Dafür ist es eine der ältesten in der Neuen Welt, 1651 von sephardischen (spanischen) Juden gegründet, die mit holländischen Siedlern in die Karibik gekommen waren.

Die “Snoa” von Willemstad hat eine bewegte Geschichte der Teilungen und Vereinigungen hinter sich, sie war mehr als 300 Jahre orthodox. Vor etwa zehn Jahren hat sie sich den “Rekonstruktionisten” angeschlossen, der liberalsten Richtung im Judentum. Das hatte weniger religiöse als praktische Gründe. Für ein Gebet in der Synagoge muss es ein Minjan geben, zehn erwachsene jüdische Männer. Es kam aber immer öfter vor, dass es kein Minjan gab. Da die Rekonstruktionisten die völlige Gleichheit der Geschlechter praktizieren, spielt es keine Rolle, wie das Minjan zusammengesetzt ist. Es müssen nur zehn erwachsene Juden sein.

Am Abend des Schawuot-Festes sitzen aber nur neun Gläubige in der Synagoge, fünf Männer und vier Frauen, deswegen kann das Gebet nicht beginnen. Und deswegen will der Mann links neben uns wissen, ob wir Juden sind oder nur Touristen, die etwas Ausgefallenes erleben wollen. “Yes, we are”, sage ich. So kommen Leon und ich zu der Ehre, den Juden von Curaçao zu einem Minjan zu verhelfen.

“We can start”, sagt der Mann neben uns und gibt dem Kantor ein Zeichen. Später kommen noch fünf Besucher dazu, darunter ein junges Ehepaar aus New York. Schließlich sind es 16 Juden, die in der Synagoge von Willemstad auf Curaçao den Herrn preisen, dass er nicht nur Frauen und Männer sondern auch die Antillen erschaffen hat.

Die Gemeinde ist zu klein, um sich einen Rabbiner und einen Kantor leisten zu können. Vor die Wahl gestellt, einen Rabbiner zu haben, der nicht singen oder einen Kantor, der auch predigen kann, hat sich der Vorstand für Avery Tracht entschieden.

1953 in Dayton, Ohio, geboren, hat er nach der Highschool mehrere Konservatorien besucht und drei Examen bestanden, unter anderem in sakraler Musik und Oper. Danach war Tracht, dessen Vorfahren aus “Prussia and Russia” nach Amerika eingewandert waren, zwölf Jahre lang Kantor an einer kleinen Gemeinde in Brooklyn. 1986 reiste er zum ersten Mal nach Deutschland, um auf Einladung einer evangelischen Gemeinde Konzerte zu geben. 1988 trat er in der Synagoge Rykestraße in Ost-Berlin auf - es war die Zeit, da die DDR plötzlich ihr Herz für Juden und die jüdische Kultur entdeckt hatte. “Alles war sehr feierlich”, erinnert sich Tracht. Am meisten hat ihn in der Wohnung des damaligen Gemeindevorsitzenden die Küche beeindruckt, die “komplett in Delfter Blau eingerichtet war”.

1990 nahm sich Tracht ein Jahr frei, um Deutschland nach der Wende zu erleben und in Berlin Deutsch zu lernen. Über einen Kollegen erfuhr er, dass die liberale Gemeinde in Amsterdam einen Kantor sucht. Er bewarb sich, wurde genommen und blieb zehn Jahre in Holland. 2001 kehrte er in die USA zurück, an eine kleine Gemeinde in Lynbrook auf Long Island. 2004 las er im Bulletin der Kantorenkonferenz, dass die Gemeinde in Willemstad einen “Spiritual Leader” sucht. “So eine Gelegenheit bekommt man nicht zweimal.” Nach fünf Jahren auf Curaçao weiß er, dass es nicht nur eine Ehre ist, die älteste Gemeinde der Neuen Welt zu führen, sondern auch eine Erfahrung, die zur Frustration führen kann.

“Es sind alles Geschäftsleute, und sie sind nicht daran interessiert, etwas Neues zu lernen.” Tracht klagt über einen Mangel an “intellektueller Neugier”, die er mit einfachsten Mitteln anzuregen versucht. Einmal im Monat führt er bei sich zu Hause “jüdische Filme” vor, Klassiker wie “Sallah Shabati” von Ephraim Kishon aus dem Jahre 1964, neue Produktionen wie “The Band’s Visit” von 2007. “Das letzte Mal kamen vier Leute.” Und wenn er mal wegfährt, dann ist niemand da, “der bereit wäre, den Gottesdienst zu übernehmen”. Dabei kann er sich über einen Mangel an Aufgaben nicht beklagen. “Ich bin Lehrer, Kantor, Seelsorger, ich konfirmiere die Kinder und traue die Ehewilligen.” Manche kommen aus Amerika und Europa angereist, um auf Curaçao zu heiraten - koscher und unter Palmen. Das ist gut für die Gemeindekasse, denn die Sonne und den blauen Himmel gibt es umsonst, alles übrige muss bezahlt werden.

Im 17. Jahrhundert lebten 2000 Juden auf Curaçao, mehr als in ganz Amerika. Die älteste Bank der Insel, Maduro & Curiel, wurde von Juden gegründet. Etwa die Hälfte aller Curaçaoner, schätzt Tracht, hat jüdische Vorfahren. Daher mag es kommen, dass es auf Curaçao keinen Antisemitismus gibt. Das wiederum, räsoniert Tracht, “ist gut und schlecht zugleich”. Gut, weil sich kein Jude bedroht fühlt, schlecht, weil “die Juden über ihr Judesein nicht nachdenken müssen”. Der Mangel an Herausforderungen sei zwar angenehm, führe aber zur Apathie.

So hat alles seine Vor- und Nachteile. Curaçao ist zwar eine antisemitismusfreie Zone, dennoch wurden an der Synagoge, die mitten in der Stadt liegt, vor kurzem Überwachungskameras angebracht. Denn viele Curaçao-Besucher kommen aus dem nahen Venezuela, wo Präsident Hugo Chávez, ein Linkspopulist, die Juden seines Landes gern zu Sündenböcken für alles macht, das ihm nicht gelingen will.

Von alldem ist beim Schawuot-Gebet nichts zu spüren. Das einzige, das den Besuchern zu schaffen macht, ist die Hitze. Die Fenster der Synagoge sind weit geöffnet, 16 große Deckenventilatoren wirbeln die Luft durcheinander. Avery Tracht hat sich wie immer gut vorbereitet. Er erklärt die Bedeutung von Schawuot, geht auf das “Buch Ruth” ein, das von der ersten Konvertitin zum Judentum handelt, und unterhält seine Zuhörer mit Anekdoten, wie der von Oprah Winfrey, deren Mutter sie eigentlich nach der Moabiterin “Orpa” nennen wollte, sich aber bei der Taufe versprochen hat.

Der ganze Gottesdienst dauert eine Dreiviertelstunde. Mehr mag Tracht seinen Zuhörern nicht zumuten. Ganz zum Schluss zitiert er den Dichter Norman Allen: “Lord, I don’t ask for a faith that would move yonder mountain. I can take enough dynamite and move it, if it needs movin’. I pray, Lord, for enough faith to move me.”

Und hinterher gibt es im ausgeräumten Souvenir-Shop Kiddusch, süßen Wein, und Challe, Flechtbrot, das von einem holländischen Bäcker auf Curaçao geliefert wurde. Tracht spricht den Segen für das Brot und den Wein. Und niemand stört sich daran, dass weder das eine noch das andere koscher ist.

Zuerst erschienen am 1.6.2009 auf Spiegel-Online: http://www.spiegel.de/reise/fernweh/0,1518,627911,00.html

 

 

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