Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

21.05.2009   11:42   +Feedback

Experten in der Umlaufbahn

Gestern bin ich fast 700 km mit dem Auto gefahren, von Berlin immer geradeaus Richtung Westen, vorbei an Braunschweig, Hannover, Osnabrück, Bielefeld und Nordhorn, durch eine streckenweise sehr schöne und vollkommen versaute Landschaft: Windräder, wohin man schaut. Nun bin ich kein großer Naturfan, mir ist Zivilisation lieber, ich habe nichts gegen gen-veränderten Mais, so wie ich nichts dagegen habe, Antihistamine zu nehmen, wenn die Pollen hinter mir her sind. Aber ich habe was dagegen, mir stundenlang häßliche Windräder anzusehen, die uns “unabhängig” machen sollen - einerseits von der Atomenergie, andererseits von den Launen der Araber und der Russen. So sagen es uns zumindest die Experten, die es wissen müssten.

Denn auf Experten ist Verlass. Andererseits: Wer sich auf Experten verlässt, ist meist verlassen. Gestern haben sie für heute Sonnenschein vorausgesagt. Als ich aber heute früh in meiner Hütte aufwachte und die Gardinen zur Seite zog, war der Himmel über Zandvoort von Wolken verdeckt. So verzichtete ich auf den Spaziergang am Meer und besuchte lieber SPIEGEL online, mal schauen, was die Kollegen so am Vatertag treiben. Und da fiel mir diese Geschichte auf:

Experten bestreiten Gefahr iranischer Atomraketen
http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/0,1518,626030,00.html

Ja, ja, die Experten. Sie können das Wetter nicht vorhersagen, aber dass die iranischen Raketen keine Gefahr darstellen, das wissen sie ganz genau. Denn: “Zudem betonen die Experten des EastWest Institute, dass Iran erst in ‘vielleicht sechs bis acht Jahren’ eine Rakete entwickeln könnte, die einen 1000 Kilogramm schweren Sprengkopf bis zu 2000 Kilometer weit tragen könnte.”  Und: “Wann Iran eine größere Interkontinentalrakete bauen könnte, sei derzeit völlig unmöglich zu sagen, erklärten die Experten. Ohne Hilfe von außen könnten es noch mindestens zehn bis 15 Jahre sein. Es gebe auch noch keine Hinweise, dass der Iran dies überhaupt vorhabe.”

Eigentlich weiss man überhaupt nicht, was der Iran vorhat. Möglich wäre, dass die Mullahs und die Ayatollahs nur ein wenig basteln wollen, und nachdem ihnen die Bausätze für zehn Jahre alte Barbie-Puppen ausgegangen sind, weil Matell wegen des Embargos keine mehr liefern will, versuchen sie es jetzt mit Raketen. Sie können zwar nicht genug Rohöl raffinieren und müssen Benzin importieren (http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,490908,00.html), dafür haben sie ein paar Tausend Zentrifugen laufen, die zur Herstellung von Houmus aus Kichererbsen benutzt werden. Betonmischer wären dazu auch geeignet, aber die unterliegen ebenfalls dem Embargo.

Das Problem ist nur: Wer sich auf Experten verlässt, könnte gleich ein Huhn schlachten und aus den Gedärmen die Zukunft vorhersagen. Es gab mal einen sehr renommierten Experten, der “Über den pysiologischen Schwachsinn des Weibes” eine streng wissenschaftliche und viel beachtete Abhandlung verfasst hatte (http://de.wikisource.org/wiki/%C3%9Cber_den_physiologischen_Schwachsinn_des_Weibes), ein anderer Experte lieferte die Grundlagen der Rassenlehre, indem er Beweise für die rassische Minderwertigkeit der Juden gegenüber den Ariern vorlegte (http://www.diplomarbeiten24.de/vorschau/41817.html), im Gegenzug gab es keinen Experten, der am 17. Dezember 1903, nachdem Orville Wright mit seinem “Flyer” in 12 Sekunden 37 Meter weit geflogen war, in der Lage gewesen wäre, die erste Mondlandung am 20. Juli 1969 vorherzusagen, also nur 66 Jahre nach dem Hopser, mit dem die Luftfahrt begann.

Aber man muss gar nicht so weit zurück gehen. Kein Experte hat den Fall der Mauer vorausgesehen, und noch vor einem Jahr waren die Experten überzeugt, dass es mit der Wirtschaft weiter aufwärts gehen würde.  Von den super-extra-tollen Prognosen der Geisteswissenschaftler wollen wir gar nicht reden, bis auf eine: die Behauptung eines in Charlottenburg und Wilmersdorf berühmten Soziologen, “vor allem in Deutschland kann der Antisemitismus-Vorwurf tödlich sein”, eine Feststellungen, die angesichts der vielen grausamen Pogrome der Juden gegen die Antisemiten richtiger nicht sein könnte. http://www.lizaswelt.net/2008/09/mord-und-totschlag.html

Und so wollen wir auch diesmal auf die Worte der Experten hören, die uns erklären, der Iran sei a) gar nicht in der Lage, Raketen zu bauen und b) falls doch, dann in unabsehbarer Zeit, also in frühestens 10 bis 15 Jahren. Denn der Allmächtige weiss alles, die Experten wissen es besser. Und wenn sie selber außerhalb der Reichweite der “selbst gebastelten” iranischen Raketen leben, haben sie die eigene Vorhersage verlässlich verifiziert: Es besteht keine Gefahr.

PS. Noch was zur Kompetenz der Experten: Nachdem Roger Willemsen verbindlich festgestellt hatte, es sei “kein einziges Beispiel bis jetzt bekannt von jemandem, der straffällig geworden wäre, nachdem er aus Guantanamo entlassen wurde” (http://www.dradio.de/dlf/sendungen/interview_dlf/965483/), kommt jetzt das Pentagon daher und behauptet, 74 aus Guantanamo in ihre Heimat- oder Drittländer entlassene Häftlinge seien zum Terror zurückgekehrt. Das ist natürich reine und interessengeleitete Propaganda (http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,626119,00.html), während Willemsen eine sachlich-objektive Position vertritt: So lange kein ehemaliger Guantanamo-Häftling versucht hat, “sechs Sorten Scheiße” aus ihm rauszuprügeln, kann von einer Rückkehr zu terroristischen Aktivitäten keine Rede sein. (http://www.taz.de/1/archiv/print-archiv/printressorts/digi-artikel/?ressort=me&dig=2009/05/16/a0142&cHash=9c6069ca9d)

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