Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

24.04.2009   10:21   +Feedback

Wir sind alle Piraten!

Im Sommer des Jahres 1900 machte sich ein europäisches Expeditionsheer unter Führung des ehemaligen deutschen Generalstabschefs, Feldmarschall Alfred Graf von Waldersee, auf den Weg nach China, um den Aufstand der Boxer niederzuwerfen, die ausländische Einrichtungen im Kaiserreich und Bahnlinien entlang der Küste angegriffen hatten. Über die Ursachen des „Boxeraufstands“ sind sich die Historiker bis heute nicht einig. Eine Erklärung lautet, die „Boxer“ seien eine soziale Bewegung gewesen, die Ausländer (und auch einheimische Christen) für die „Störungen der natürlichen Umwelt und der sozialen Harmonie“ in China verantwortlich machte. Durch den Import ausländischer Waren sollen viele Chinesen arbeitslos geworden sein. Bei der Verabschiedung eines deutschen Truppenkontingents hielt Kaiser Wilhelm II eine Rede, in der er u.a. sagte: „Kommt ihr vor den Feind, so wird er geschlagen. Pardon wird nicht gegeben, Gefangene nicht gemacht. Wer euch in die Hände fällt, sei in eurer Hand…“

Nur vier Jahre später, 1904, schickte die Regierung des Deutschen Reiches 15.000 Mann nach Deutsch-Südwestafrika, wo sich die Völker der Herero und der Nama gegen die deutsche Kolonialherrschaft erhoben hatten. Die Aufständischen wurden mit ihren Familien und ihren Herden in die Wüste getrieben, Generalleutnant Lothar von Trotha erklärte: „Jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh, wird erschossen, ich nehme keine Weiber und keine Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volke zurück oder lasse auch auf sie schiessen.“ Die wenigen Überlebenden wurden in Konzentrationslagern interniert. Die Feldzug gegen die Hereros gilt inzwischen als der erste Völkermord des 20. Jahrhunderts.

Im Jahre 2009 reist ein ehemaliger deutscher Minister, Jürgen Trittin, als Vertreter des Bundestages, nach Kenya, um sich vor Ort davon zu überzeugen, dass neun Piraten, die von einem deutschen Kriegsschiff vor der somalischen Küste aufgegriffen wurden, ein fairer Prozess gemacht wird. Sie in Deutschland anzuklagen, wäre rechtlich zu umständlich gewesen. Ohne den Ausgang des Verfahrens abzuwarten, erheben zwei der neun mutmaßlichen Piraten mit Hilfe deutscher Anwälte Klagen gegen die Bundesregierung – sie soll die Arbeit der Anwälte unterstützen und auch die Kosten der Verteidigung übernehmen. Ihre Aussichten, mit diesem Antrag durchzukommen, sind nicht schlecht. Immerhin wurde schon einem Kindermörder „Prozesskostenhilfe“ gewährt, der nach seiner rechtskräftigen Verurteilung die Bundesrepublik wegen schlechter Behandlung verklagt hatte.

Das alles kann man natürlich positiv interpretieren. Die Bundesrepublik ist ein Rechtsstaat, in dem auch die Regierung an die Gesetze gebunden ist, jeder Angeklagte bis zu seiner Verurteilung als unschuldig gilt und auch der letzte Verbrecher Anspruch auf einen ordentlichen Prozess hat. Daran darf nicht gerüttelt werden.

Im Gegenzug muss man sich freilich fragen, warum mit einem Riesenaufwand Piraten vor der Ostküste Afrikas gejagt werden, die praktisch nicht zur Strecke gebracht werden können. Sie mitsamt ihren Schnellbooten zu versenken, wäre „unverhältnismäßig“, sie einfach auf hoher See auszusetzen, würde einen Aufschrei des Entsetzens provozieren - von amnesty international über Human Right Watch bis zu Claudia Roth.

Schon kann man in der deutschen Öffentlichkeit die ersten Zeichen einer klammheimlichen Schadenfreude vernehmen. In den fortschrittlichen Milieus, deren Angehörige sich gerne verbeamten lassen, um ihr Leben besser planen zu können, breitet sich Solidarität mit den Piraten aus. Nicht nur Robin Hood, auch Klaus Störtebeker ist wieder da. Wie schon die islamischen Terroristen, die vor allem die Interessen der Ausgebeuteten und Unterdrückten vertreten, künden auch die Piraten von sozialen Missständen, die der Westen verursacht hat. Statt die Ursachen der Piraterie – „Armut und westliche Raubfischerei“ – zu bekämpfen, so eine linke Tageszeitung, setzen die westlichen Staaten „auf den bewaffneten Kampf“. Der „Verteidigungsexperte“ der LINKEN im Bundestag kritisierte, die Marine beteilige sich „am Schutz der Handelsflotten für die westlichen Märkte“. Und auch die Friedensbewegung entdeckt die Freibeuter als Objekte ihrer Begierde.

Die nächste Demo gegen den Krieg könnte unter dem Motto „Wir sind alle Piraten!“ stattfinden.
(Aus der Weltwoche vom 24.4.09)

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