Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

18.02.2010   09:39   +Feedback

Die absurde Moral des Ministers

Da ich nicht weiss, ob alle Leser der Weltwoche auch die NZZ am Sonntag lesen, möchte ich Sie auf ein Interview aufmerksam machen, das der deutsche Finanzminister Wolfgang Schäuble dort am 7. Februar gegeben hat. Darin verspricht er nicht nur: «Wir werden das Bankgeheimnis in Europa abschaffen», er sagt auch die folgenden Sätze über die relative Unantastbarkeit der Menschenwürde: «Der Zweck heiligt nicht grundsätzlich alle Mittel. Vor einigen Jahren hatten wir eine Debatte um die Entführung eines Kindes. Hier ging es um die Frage, ob man Folter androhen darf, um Informationen zu erhalten. Ich habe dort klargemacht, dass hier nie der Zweck die Mittel heiligen kann. Die Würde des Menschen ist unantastbar. Aber es gibt andere Fälle, in denen der Zweck die Mittel heiligen kann, wie im Fall der Steuerhinterziehung. Der Zweck ist die gleichmässige Besteuerung aller Bürger.»

Die «Debatte», auf die sich Schäuble bezieht, ist der Mordfall Jakob von Metzler. Der elfjährige Sohn eines Frankfurter Bankiers war von einem «Freund» der Familie entführt worden. Der Täter, ein Jurastudent, verlangte eine Million Euro Lösegeld. Der Frankfurter Polizei gelang es, den Täter zu fassen, aber nicht, das Versteck des entführten Jungen zu finden. In der Hoffnung, das Leben des Kindes zu retten, liess der stellvertretende Frankfurter Polizeipräsident dem Entführer körperliche Schmerzen androhen. Die Drohung kam zu spät, zu diesem Zeitpunkt war der Bankierssohn bereits tot. Als diese «Folter» im Verfahren bekannt wurde, musste der Prozess gegen den Entführer abgebrochen werden. Der stellvertretende Frankfurter Polizeipräsident wurde gefeuert und von einem Frankfurter Gericht wegen Amtsmissbrauchs verurteilt. Die Frage, ob das entführte Kind eventuell hätte gerettet werden können, geriet angesichts der Qualen, die der Entführer bei seinem Verhör erleiden musste, fast ins Vergessen.

Die «Debatte» war so absurd wie alle Streitfälle, die in Deutschland sofort ins Grundsätzliche entgleiten: «Wo kämen wir denn hin, wenn alle so was tun würden?» Mir kam das Ganze so vor, als wiese man den Fahrer einer Ambulanz darauf hin, dass er sich an die Strassenverkehrsordnung halten und an jeder roten Ampel stoppen müsse. Und nun sagt der amtierende Finanzminister, der vor kur-zem noch als Innenminister für die öffentliche Sicherheit zuständig war, in welchem Fall der Zweck die Mittel heiligt und in welchem nicht: Auf keinen Fall bei einer Kindesentführung. In jedem Fall bei der Steuerhinterziehung und der Herstellung von Steuergerechtigkeit.

Ich habe an dieser Stelle bereits darauf hingewiesen, dass die Deutschen ein gebrochenes Verhältnis zum Geld haben: Sie verachten es, und sie beten es an. Geld ist ihnen viel mehr als nur Mittel zum Zweck, um den Warenverkehr zu erleichtern. Es ist eine moralischer Lackmustest.

Ein Mord aus Leidenschaft wird in der Regel milder bestraft als ein Mord aus Liebe zum Geld, denn Habgier zählt zu den «niederen Beweggründen». Andersrum kann ein Täter mit Nachsicht und Strafnachlass rechnen, wenn er im Vollsuff getötet hat. Denn er handelte quasi im Zustand der Unschuld.

Keine mildernden Umstände gibt es dagegen, wenn eine Kassiererin in einem Supermarkt Leergutbons im Wert von H 1.30 unterschlägt. Sie wird fristlos entlassen und verliert auch die anschliessenden Prozesse vor den Arbeitsgerichten, die der Ansicht des Arbeitgebers folgen, das «Vertrauensverhältnis» sei zerstört. Mehr Glück hatte dagegen ein Müllmann, der ebenfalls seinen Job verlor, nachdem er ein ausrangiertes, aber intaktes Kinderbett mitgenommen hatte. Er habe zwar einen «Pflichtverstoss» begangen, stellte das Gericht fest, doch sei die fristlose Kündigung «unverhältnismässig».

In Fragen materieller Moral macht es keinen Unterschied, ob es um H 1.30 oder 1,3 Millionen Euro geht. Wer den Pfennig nicht ehrt, ist des Talers nicht wert.

Der Entführer des elfjährigen Jungen ist übrigens doch noch zu lebenslänglich verurteilt worden. Hätte er nicht eine Million Euro Lösegeld haben, sondern mit der Entführung nur ein Zeichen gegen die ungerechte Verteilung des Volksvermögens setzen wollen, wären also keine «niederen Beweggründe» im Spiel gewesen, könnte er inzwischen wieder frei sein und darüber räsonieren, wann der Zweck die Mittel heiligt.
C: Weltwoche, 18.2.10

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