Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

12.05.2010   23:01   +Feedback

Das Schaf im Wolfspelz

Früher, als man noch zwischen Proletariern und Proleten unterscheiden konnte, war der 1. Mai der wichtigste Feiertag der Arbeiterklasse. Man ging auf die Strasse, sang die Internationale und demonstrierte – die Revolutionäre für die Diktatur des Proletariats und die Reformer für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Mitsprache in den Betrieben. In diesem Jahr nahmen etwa 3000 Menschen an der zentralen Maifeier des Gewerkschaftsbundes teil, weniger als je zuvor. Die Arbeiterklasse war ins Grüne gefahren, die Funktionäre blieben weitgehend unter sich.

Dennoch bleibt der 1. Mai ein wichtiger Tag in der laufenden Chronik der Ereignisse. Zumindest in Berlin, wo es seit Jahren schon in der Nacht zum 1. Mai zu schweren Auseinandersetzungen zwischen «gewaltbereiten Jugendlichen» aus dem Umfeld der «Antifa» und der Polizei kommt, die sogenannte Anti-Konflikt-Teams ins Feld schickt, um die Situation zu «deeskalieren». Letztes Jahr wurden dabei über 400 Polizisten zum Teil schwer verletzt, dieses Jahr waren es etwa 100, was den Berliner Innensenator dazu bewog, seine Zufriedenheit über den relativ friedlichen Verlauf der «traditionellen» Mai-Randale zu artikulieren.

Obwohl heuer weniger Opfer zu beklagen waren, hatte die Polizei dennoch alle Hände voll zu tun. Nicht nur linke, auch rechte Autonome machten von ihrem Demonstrationsrecht Gebrauch, was die Situation vor Ort schwer überschaubar machte, denn die einen Autonomen sind von den anderen Autonomen äusserlich kaum zu unterscheiden.

An einer solchen Nahtstelle zwischen linken und rechten Krawallos in Prenzlauer Berg hatte sich eine Gruppe «bürgerlicher» Demonstranten zu einem Sit-in auf der Strasse niedergelassen, um einen Aufmarsch der Rechten zu stoppen. Unter ihnen auch der Vizepräsident des Bundestages, Wolfgang Thierse, SPD. Es war sicher nur ein Zufall, dass der Prenzlauer Berg zu Thierses Wahlkreis gehört, ebenso zufällig war die Präsenz von TV-Teams, die eine Vorahnung gehabt haben mussten, wann und wo es Action geben würde.

Die Polizei jedenfalls war nicht amüsiert, sie sah sich in ihrer Arbeit behindert. Thierse und seine Freunde wurden einige Male aufgefordert, ihr Sit-in zu beenden und schliesslich mit sanfter Gewalt von der Strasse zum Bürgersteig begleitet.

Der Berliner Innensenator Körting, ebenfalls SPD, fand das Verhalten seines Parteifreundes Thierse «höchst problematisch». Er habe «den lieben Wolfgang» persönlich angesprochen und ihm eine «freundschaftliche Rechtsbelehrung erteilt», nämlich die, dass «auch Bundestagsabgeordnete nicht über dem Grundgesetz» stehen. Die Berliner SPD-Politikerin Anja Hertel fand es «nicht besonders mutig, mit seinem Abgeordnetenausweis durch die Polizeisperren zu gehen, sich dann unter Polizeischutz auf die Strasse zu setzen, um schliesslich umgehend Interviews zu geben».

Thierse selbst hatte einen ganz anderen Eindruck von seiner Aktion: «Unser Protest war friedlich, fröhlich und gewaltfrei . . ., [er] richtete sich nicht gegen die Polizei, sondern gegen die Nazis. Die Beamten erfüllen ihre polizeiliche Pflicht, und wir Demonstranten tun unsere staatsbürgerliche Pflicht.»
Bei dieser Art der Arbeitsteilung spielte es dann keine Rolle, dass die «Nazis», denen sich Thierse in den Weg gesetzt hatte, von seinem Protest nichts mitbekamen, weil sie von der Polizei schon eingekreist waren. Es war eine «PR-Sitzblockade», so ein Berliner FDP-Politiker, mit der Thierse grossen Mut zum Nulltarif demonstrierte, geschützt durch die Polizei und seine Immunität als Abgeordneter.

Vier Tage später nahm Thierse an einer Feier zum fünfjährigen Bestehen des Berliner Holocaust-Mahnmals teil, bei der sich die Förderer des Denkmals gegenseitig zu ihrem grossen Mut gratulierten, das Projekt 60 Jahre nach dem Ende des Holocaust durchgesetzt zu haben. Denn auch Thierse ist gegen den Holocaust, aus Überzeugung und als Staatsbürger, der seine Pflicht erfüllt.
Umso erstaunlicher, dass er noch nie auf einer jener Demos gesichtet wurde, bei denen in Deutschland lebende Palästinenser und deutsche Palästina-Freunde «Tod, Tod, Israel!» und «Zionisten raus aus Palästina!» gerufen haben. Denn Thierses Fürsorge gilt den toten Juden, die lebenden sollen sich noch ein wenig gedulden, bis sie ein Mahnmal verdient haben.

C: Weltwoche

Permanenter Link

Achgut  

Die Achse des Guten