Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

03.02.2011   20:17   +Feedback

Experten im Vollrausch

Als in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 die Berliner Mauer fiel und der erste Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden Konkurs anmelden musste, hielt die Welt den Atem an. Auch in Deutschland waren die Menschen auf beiden Seiten der Grenze überrascht, geschockt, außer sich, die einen vor Freunde, die anderen vor Entsetzen. Dann dauerte es etwa 48 bis 72 Stunden, bis eine Gruppe von Zeitgenossen sich gefasst und ihre Sprache wieder gefunden hatte: die Experten. Einer nach dem anderen meldete sich zu Wort und erklärte dem Publikum, warum das, was passiert war, einfach passieren musste. Warum die DDR reif für den Untergang war und warum die Politiker, die in der DDR das Sagen hatten, ihr Land sehenden Auges in den Abgrund der Geschichte geführt hatten. Es gab damals keinen Kommentar, der nicht mit dem angeblich von Michail Gorbatschow gesagten Satz endete: “Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.”

Wer da freilich spät dran war, ohne vom Leben bestraft zu werden, das waren die Kommentatoren, die ihre Vorhersagen post festum abgaben. Sie waren sich offenbar sicher, dass niemand aufstehen und sagen würde: “Alles schön und gut, aber wenn der Fall der Mauer so unvermeidlich war, warum habt ihr uns nicht kurz vorher Bescheid gesagt?”

Als die amerikanische Investment-Bank Lehman Brothers im September 2008 kollabierte und damit die globale Finanzkrise ihren Lauf nahm, passierte etwas Ähnliches. Nach einer Schrecksekunde waren sich die Experten einig: Das musste passieren, der Crash war so überfällig wie der Kater nach einem Besäufnis, die Spekulanten hatten es zu toll getrieben.

Wie schon beim Fall der Mauer (und anderen weniger folgenschweren Ereignissen danach) stand die Frage im Raum, warum die Experten, von ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, nicht schon vor dem Big Bang die Alarmglocken geläutet hatten. Die Anleger, die ihre Ersparnisse verloren hatten, wären ihnen sehr dankbar gewesen.
Und nun sind sie wieder da, die Experten für das absehbar Unabsehbare. Wie die Astronauten im “Planet der Affen” reisen sie zurück in die Zukunft und berichten aus der Vergangenheit. In Tunesien wird die Regierung gestürzt, in Ägypten, in Jordanien und im Jemen gehen Tausende auf die Straße, die arabische Welt erlebt den größten Umbruch seit dem Ende der Kolonialzeit. Wer sein Herz nicht gegen einen iPod nano getauscht hat, der muss den Mut der Menschen in Kairo, Alexandria, Sanaa und Amman bewundern. Sie riskieren ihr Leben.

Unsere Experten aber müssen nicht einmal riskieren, sich zu blamieren, wenn sie die Ereignisse analysieren, die sie - ebenso wie wir - aus sicherer Distanz verfolgen. Lobbyisten wie Udo Steinbach und Michael Lüders, Politologen wie Volker Perthes, Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, Journalisten wie Elmar Theveßen, stellvertretender Chefredakteur und “Terrorexperte” des ZDF, sagen uns nicht nur, was in der arabischen Welt passiert, sondern auch, warum es passieren musste. Korruption, Misswirtschaft, Abhängigkeit von den USA. Sie haben das Wetterleuchten am Horizont schon gesehen, lange bevor der Sturm losbrach, aber ihr Wissen für sich behalten. Weil sie uns nicht erschrecken oder weil sie nicht präpotent erscheinen wollten?? Egal, Menschen, denen niemand freiwillig eine Heizdecke bei einer Werbeveranstaltung abkaufen würde, tun so, als hätten sie das Ei des Kolumbus erfunden und nur vergessen, sich die Erfindung patentieren zu lassen.

Denn das einzige, womit sie sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten beschäftigt haben, war der Palästina-Konflikt und dessen zentrale Rolle für den Frieden im Nahen Osten und der ganzen Welt. Die Lösung der Palästinafrage genoss absolute Priorität. Ägypten und Tunesien waren nur als preiswerte Reiseziele für sonnenhungrige Urlauber von Interesse. Wer ein echtes Abenteuer erleben wollte, der brauchte nur bei Studiosus eine Reise in den Jemen zu buchen,  Entführung inklusive. Dass die Pauschaltouristen ihre Reisen nun abbrechen müssen oder gar nicht antreten können, ist beinah so tragisch wie das Schicksal der Menschen in den Unruhe-Regionen.
Jetzt sind wieder die Experten dran. Volldampf voraus! Wahrscheinlich wissen sie schon, wo es demnächst krachen wird. Und sie werden es uns sagen - sobald es gekracht hat.

© Weltwoche, 3.2.11

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