Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

09.02.2012   15:05   +Feedback

Im Gasometer

Es ist, wie es ist. 21% Prozent der Deutschen unter 30 wissen mit dem Begriff „Auschwitz“ nichts anzufangen. Über 30 Prozent aller Deutschen haben keine Ahnung, in welchem Land die bekannteste Todesfabrik der neueren Geschichte gebaut wurde.

Man mag sich darüber aufregen, sollte dabei aber nicht übersehen, dass jeder fünfte Hauptschüler in der Bundesrepublik so schlecht lesen kann, dass es für eine Berufsausbildung nicht reicht. Und dass der Berliner Regierende Bürgermeister vor einiger Zeit auf der Frage, von wann bis wann der Zweite Weltkrieg gedauert hat, passen musste.

Geht es aber um Auschwitz, fühlt sich sogar Günter Jauch gefordert. Letzten Sonntag hatte er vier Gäste in sein kuscheliges ARD-Studio in einem ehemaligen Berliner Gasometer eingeladen, um sich mit ihnen über die Frage „Gerät Auschwitz in Vergessenheit?“ zu unterhalten. Da war eine 86jährige Überlebende der Lager Auschwitz und Bergen-Belsen; ein nach dem Krieg geborener Sportreporter, dessen jüdischer Vater als Zwangsarbeiter in der Ölindustrie der Endlösung entkommen konnte; ein Schauspieler, mit dem typisch jüdischen Vornamen Christian, dessen Mutter, eine „Halbjüdin“, nach dem Krieg einen ehemaligen Wehrmachts-offizier geheiratet hatte; und eine 24 Jahre junge, gut aussehende und völlig unbedarfte Aktivistin der Piratenpartei, die als „gläubige Jüdin“ vorgestellt wurde.

Allein die Zusammensetzung der Runde machte klar, wer in Deutschland dafür zuständig ist, dass Auschwitz nicht in Vergessenheit gerät: die Juden bzw. Menschen jüdischer Herkunft. Die arische Mehrheit von 99,9% hat diesen Job an die jüdische Minderheit ausgesourcet. Das ist ungemein praktisch, denn erstens befreit es die Bio-Deutschen von der Verantwortung für ihre Vergangenheit, und zweitens verpflichtet es die Juden, dafür zu sorgen, dass sich die Geschichte nicht wiederholt. Die Juden, die so schrecklich zwischen 33 und 45 versagt haben, bekommen eine zweite Chance.

Und wenn sie sich diesmal bewähren und ein neues Auschwitz verhindern, werden sie wieder bei Günter Jauch eingeladen werden.

Erschienen in der Weltwoche vom 9.2.12

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