Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

21.07.2012   22:28   +Feedback

Volk im Wahn

Kennen Sie eines der bewegendsten Dokumente aus der Zeit des Dritten Reichs? Es ist ein Schreiben des “Reichsverbandes der Kinderärzte im Altreich, der Ostmark und dem Generalgouvernement” an den Leiter des Reichssicherheitshauptamtes, Heinrich Himmler, er möge bitte “jüdische Kinder” von der “Durchführung der judenpolitischen Maßnahmen” verschonen, bis sie so alt sind, dass sie über ihre “Zugehörigkeit zum Judentum entscheiden können”. 

Was, Sie kennen das Dokument nicht? Kein Wunder, es existiert nicht. Was es aber gibt, ist ein Offener Brief von über 100 Medizinern und Juristen an die Bundesregierung und den Bundestag, “jüdisches und islamisches Leben im Rahmen der deutschen Rechtsordnung zu schützen” und die “Durchführung medizinisch nicht notwendiger irreversibler Genitalbeschneidungen von Jungen, verbunden mit hohem Risiko für bleibende genitale Beschädigungen und seelische und sexuelle Beeinträchtigungen” für unzulässig zu erklären, bis die “Betroffenen” über “eine Beschneidung in einwilligungsfähigem Alter” entscheiden können. Hier der ganze Brief.

Es gibt bestimmt gute Gründe, die gegen eine Beschneidung im nicht einwilligungsfähigen Alter sprechen, so wie es gute Gründe gegen das “Waterboarding” gibt, dem christliche Kinder schon bald nach der Geburt unterzogen werden. Aber darum geht es in dieser Debatte nicht, die ohne Beispiel ist. Ging es bis jetzt darum, die Welt vor den Missetaten der Juden zu schützen, geht es nunmehr darum, jüdische Kinder vor dem Missbrauch durch ihre Eltern zu schützen. Und wie schon beim Palästina-Konflikt jüdischen Zeugen gegen Israel eine wichtige Rolle zukommt, weil sie zwar beschnitten aber unverdächtig sind, dem Antisemitismus Vorschub zu leisten, wird auch diesmal ein jüdischer Kronzeuge vorgeführt: Jonathan Enosch, der zum Kreis der “engagierte(n) Gegner der Ritualbeschneidung” in Israel gehört.

Was, Sie haben noch nie etwas von Jonathan Enosch gehört? Das muss an den gleichgeschalteten Medien in Israel liegen. Susanne Kaul, die für die taz arbeitet, hat ihn gefunden und interviewt. Das Interview machte schnell die Runde, bis es auch bei den Medizinern und Juristen ankam, die Jonathan Enosch, einen engagierten Gegner der Ritualbeschneidung, in ihrem Reihen willkommen hießen. Von nun an werden wir noch öfter von ihm hören, und es ist nur eine Frage der Zeit, bis er bei einer Tagung über Ritualmorde und Ritualbeschneidungen in der Evangelischen Akademie Bad Boll aufschlagen wird, wo man schon immer ein großes Herz für jüdische “Israelkritiker” hatte. Jonathan Enosch wird in die Fußstapfen von Hajo Meyer und Reuven Moskowitz treten.

Derweil werden sich immer mehr Deutsche gegen “Ritualbeschneidungen”, “Verstümmelungen” und “Amputationen” der Genitalien bei kleinen Jungs engagieren. Natürlich aus reiner Menschenliebe und weil “wir Deutsche” aus unserer Geschichte gelernt haben. Ein unheilbar gesundes Volk, das man vor 80 Jahren lobotomiert hat und das über diese Beschneidung nicht hinweg kommt.

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