Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

16.05.2012   09:11   +Feedback

La Boheme

Jeder Student der Soziologie im zweiten Semester kennt das Prinzip der Normalverteilung, auch Gauß-Glocke bzw. Gaußsche Glockenkurve genannt. Er weiß auch, aus welchen Schichten sich die Gesellschaft zusammensetzt: einer relativ kleinen Oberschicht, die nicht auf Einnahmen aus Erwerbstätigkeit angewiesen ist; einer Mittelschicht, zu der die staats-tragenden Kreise, die kreative Intelligenz und die Dienstleister – Ärzte, Architekten, Anwälte – gehören; der Masse der Arbeiter und Angestellten, auch Arbeitnehmer genannt, die dafür sorgen, dass Autos und Autobahnen gebaut werden, der Müll abgeholt wird und die Züge nach Plan verkehren. Den Bodensatz der Gesellschaft bildet das „Prekariat“, Menschen, die - aus welchen Gründen auch immer – entgleist und auf Sozialleistungen angewiesen sind.

Diesen „Auswurf, Abfall, Abhub aller Klassen“ fasste Marx in dem Begriff des „Lumpenproletariats“ zusammen; dazu zählten neben „Vagabunden, entlassenen Soldaten, entlaufenen Galeerensklaven“ auch „Gauner, Gaukler, Tagediebe,  Taschenspieler, Orgeldreher, Lumpensammler, Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen ‚la bohème‘ nennen“.

Würde Marx heute leben, müsste er noch ein paar „Berufe“ mehr auflisten, für die es keine genaue Bezeichnung gibt. Man könnte sie unter dem Begriff „Internet-Boheme“ zusammenfassen. Es sind Menschen, die keine Not leiden, die in der Lage sind, für sich selbst zu sorgen und die nie auf Idee kämen, in einem Cafe oder einer Tankstelle die Zahlung zu verweigern; geht es aber um geistiges Eigentum, reklamieren sie das Recht auf Diebstahl. Sie möchten Autoren und Urheber enteignen und sehen in diesem Vorsatz nichts Verwerfliches.

Wer sich ihnen widersetzt, muss damit rechnen, dass er im Internet mit Namen und Adresse an den Pranger gestellt und mit Spott übergossen wird. „Wir scheissen auf euer Urheberrecht. Wir scheissen auf eure Gesetze. Wir scheissen auf euer geistiges Eigentum. Wir scheissen auf eure Anwälte. Wir scheissen auf euer Copyright. Wir sind Filesharer! Wir kämpfen einen Copyfight. Und wir gewinnen.“

So tönt die digitale Boheme, die Speerspitze des Lumpenproletariats im 21. Jahrhundert.

 

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