Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

01.04.2000   13:06   +Feedback

Die Mauer ist weg

“Kommen Sie mit”, sagte Herr O., “ich will Sie jemand vorstellen”. Er nahm mich am Arm und zog mich zum Nebentisch. Ich wollte Herrn O. noch warnen, aber es war zu spät. “Frau Thalheim - Herr Broder.”

Frau Thalheim rührte sich nicht von der Stelle. “Guten Abend, Frau Thalheim”, sagte ich brav und streckte meine Hand aus. Frau Thalheim schaute mich an, als hätte ich versucht, ihr einen Hammer und eine Sichel zu überreichen. Meine Hand blieb in der Luft hängen. “Ich wußte es, Frau Thalheim, ich wollte nur sicher gehen.” - Herr O. guckte irritiert. “Ich habe vor Jahren Frau Thalheims IM-Akte gefunden”, klärte ich den Gastgeber auf. Herr O. guckte noch irritierter. Frau Thalheim rührte sich noch immer nicht von der Stelle. Ihre linke Hand war bandagiert, die rechte schwebte in Hüfthöhe. “Sie sollten sich die rechte Hand verbinden”, sagte ich, “das wäre praktischer”. - “Meine linke Hand ist krank”, antwortete Frau Thalheim,“die rechte nicht”. - “Die rechte und die linke”, sagte ich, “und alles übrige dazwischen auch”. Dann ging ich in die Küche und machte mich über die Häppchen her.

Nein, ich hatte nicht vor, Herrn O. seine Party zu vermasseln, ich fand es nur seltsam, daß etwa 5o Berliner Kulturschaffende zum geselligen Beisammensein zusammengekommen waren und keiner etwas dabei fand, daß ein ehemaliger Stasi-Spitzel - oder heißt es Spitzelin? - mit von der Partie war. Im Juli 1996 stieß ich zufällig auf die Akte der IM “Elvira”, dann konnte man im SPIEGEL lesen, Barbara Thalheim habe im September 1972 eine handschriftliche “Verpflichtung” unterschrieben und bis Ende 1979 “häufig und detailliert aus dem Künstler- und Musiker-Milieu der DDR” Berichte geliefert: “Wer mit wem ein intimes Verhältnis pflegt, wer homosexuell ist, wer die DDR verlassen möchte.” Daraufhin berichteten alle größeren Zeitungen über die zweite DDR-Karriere der Sängerin, die nach der Wende für eine Weile nach Paris ging, weil sie im vereinten Deutschland nicht frei atmen konnte.

Eigentlich hat Frau Thalheim keinen Grund, auf mich böse zu sein, nur weil ich ihre IM-Akte aus der Ablage geholt habe. Sie weiß es nur nicht.

Sie ist voll rehabilitiert. Niemand nimmt ihr übel, daß sie für die Stasi gearbeitet und Kollegen verpetzt hat. Es gab keine Amnestie, dafür die übliche deutsche Amnesie. Ein(e) ehemalige(r) IM ist inzwischen voll partytauglich, so wie es vor der Wende die DDR-Dissidenten waren.

Von wegen: Mauer in den Köpfen. Die ist längst weg und die “innere Einheit” wird mit einem Pinot Grigio begossen.

Zur nächsten Party werde ich mir die rechte Hand verbinden lassen. Heinrich Fink (IM “Heiner”) ist schon lange von einer Fete zur anderen unterwegs.

1.4.2000

Permanenter Link

Uncategorized