Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

30.01.2001   12:05   +Feedback

Israel-Tagebuch, Tag 2: Gershwin und Bomben

Wir sitzen in Natans Küche, löffeln Hühnersuppe und hören Radio. Im zweiten Programm von “Kol Israel” (Die Stimme Israels) läuft ein Interview mit Dani Wollmann, einem der bekannteren Filmregisseure des Landes. Er hat gerade einen neuen Film gemacht, über Fremdarbeiter aus Asien und Afrika, die in Israel legal und illegal arbeiten. Allein in Tel Aviv soll es über 100.000 illegale Arbeiter geben, sie werden ausgebeutet und leben in schäbigen Quartieren rund um die alte Autobusstation, wo kein normaler Israeli auch nur einen Tag freiwillig verbringen würde.

Mitten im Interview fällt das Wort “Pitzutz”, Explosion, in Natanja, sagt ein Sprecher, sei eine Bombe explodiert. Dann geht das Gespräch mit Dani Wollmann weiter. Nach zwei oder drei Minuten wird es wieder unterbrochen. In Natanja gebe es mindestens fünf Verletzte, vielleicht sogar Tote. Zurück ins Studio zu Dani Wollmann und den sozialen Problemen der Migranten. Drei Minuten später sind es schon elf Verletzte. Passanten, die vor Ort waren, melden sich übers Handy im Studio und berichten, was sie gesehen haben.

Je näher einer am Ort der Explosion war, umso ausführlicher darf er erzählen. Dann ruft der Moderator Leute in Natanja an und arbeitet sich immer weiter voran. Schließlich spricht er mit einem Mann, der Sekunden vor der Explosion an dem geparkten Auto vorbeiging. Als er seine Wohnung betrat, knallte es vor dem Haus. Der Zeuge wird seine Geschichte an diesem Tag noch oft erzählen. Eine Stunde nach dem Anschlag setzen wir uns ins Auto und fahren nach Rishon Le Zion, südlich von Tel Aviv. Auch unterwegs hören wir Autoradio.

In Natanja sind es inzwischen über zwei Dutzend Verletzte, am schwersten soll es den Attentäter erwischt haben, als er die Bombe zündete. Rishon Le Zion (“Die Ersten in Zion”) ist eine ziemlich alte Stadt, in der man viel Wert auf Kultur legt. Im Zentrum für darstellende Künste spielt das Israel Symphony Orchestra Stücke von Igor Strawinski, Aaron Copland, Artie Shaw und Anton Dvorak. Der Dirigent ist ein Deutscher und heißt Gregor Bühl. Die Solo-Klarinettistin Sharon Kam ist eine Israeli, weltberühmt und mit Bühl verheiratet. Als Zugabe spielt sie “Summertime” von Gershwin.

Wenn man die Nachrichten nicht hören würde, könnte man meinen, in einem ganz normalen Land zu sein.

30.1.2001

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