Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

30.01.2001   12:05   +Feedback

Israel-Tagebuch, Tag 14: Sarah, die Matrone und Jossi, die Legende

“Wir werden nicht vergessen. Wir werden nicht verzeihen. 4. November 1995.” Der Tag, an dem Jizchak Rabin von einem jüdischen Fanatiker ermordet wurde. “1245 Soldaten haben den Libanon schon verlassen.” Soll heißen: in Leichensäcke verpackt. David Tartakover, ein kräftig gebauter Typ mit

Sarah steht an der Theke im Café Tamar

Sarah steht an derTheke im Café Tamar(© Andre Brutmann)

Glatze, macht politische Plakate. Sein letztes Poster zeigt einen Wohncontainer auf einem Sattelschlepper: “Bringt die Siedler zurück!” Tartakovers Plakate hängen im Schaufenster des Cafés Tamar in Tel Aviv und Tartakover sitzt fast jeden Tag entweder im oder vor dem Café, je nach Wetterlage.

Mit seinen etwa 50 Jahren gehört er zu den jüngeren Stammgästen, die meisten sind viel älter, wie Schaul Bieber, 78, der Geschichtenerzähler, oder Yoram Kanjuk, 70, der Schriftsteller. Das Café Tamar, an der Ecke Sheinkin und Achad Ha’am, steht in keinem Reiseführer, aber es ist eine Institution, wie das Nationaltheater und die Philharmonie, “ein letztes Stück echtes, altes Tel Aviv”, sagt Kanjuk, Erinnerung an eine Zeit, als es noch kein Fernsehen, keine Cocktail-Bars und keine Internet-Cafés gab.

Die Einrichtung, nicht schön aber praktisch, stammt aus den sechziger Jahren: quadratische Resopaltische, die man nach Bedarf zusammenrücken kann, Gartenstühle und Gardinen aus grobem Leinenstoff. Sarah, Besitzerin, Küchenchefin und Matrone in einem, ist noch älter. 1925 in einer landwirtschaftlichen Siedlung geboren, war sie mit der britischen Armee in Ägypten und hat bis 1945 Jeeps und Lastwagen gefahren, “alles, was Räder hatte”. Mitte der fünfziger Jahre übernahm sie das Café Tamar, und seitdem steht sie jeden Tag, außer an Samstagen, hinter der Theke, kocht Kaffee und verarbeitet mit zwei Waffeleisen Sesamkringel zu Toast Tamar - die Spezialität des Hauses. Eines Tages wird die Tamar-Theke im Israel-Museum zu sehen sein: als Dokumentation israelischer Protest-Kultur.

Alle Sticker (hebräisch: “Stickerim”) der letzten Jahre kleben hier nebeneinander und übereinander. Von “Shalom chaver” (Adieu, Kamerad), Clintons letzten Worten beim Rabin-Begräbnis, bis zu Wortspielen, die nur im Hebräischen aufgehen: “Bibi, tagid schalom”, eine Forderung an Netanjahu, als der noch das Land regierte, die so viel bedeuten kann wie: “Bibi, sag ja zum Frieden” oder auch “Bibi, geh endlich heim”.

Der älteste Stammgast ist 83, sieht aus wie Anfang 70 und kommt fast jeden Tag. Jossi Harel ist eine lebende Legende. Er hat zwischen 1946 und 1948 illegale Einwanderer mit alten Dampfern aus Europa nach Palästina geholt, Überlebende des Krieges, die kein Land aufnehmen wollte. Er war auch Kommandeur der “Exodus”, mit der 1947 genau 4515 “Illegale” ins Land kamen. Zählt man die anderen Schiffe dazu, so hat er 24.000 Menschen das Leben gerettet. Und jetzt sitzt er im Café Tamar an der Ecke Sheinkin und Achad Ha’am, schaut den Mädchen nach und ist immer guter Laune. “Wenn mir das nicht mehr Spaß macht, ist das Leben vorbei.”

30.1.2001

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