Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

02.06.2001   13:06   +Feedback

Lieber Broiler als Hähnchen

Das “neue theater” in Halle erinnert mit einer Revue an die Wende vor über zehn Jahren. Gespielt wird in Leuna, an einem historischen Ort, wo die Erinnerung an die DDR keine Ostalgie ist, sondern normaler Alltag.

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Nichts ist so, wie es einmal war, aber vieles erinnert noch an vergangene Zeiten. Im Restaurant Cafe Pub “Maxx” stehen vorne Soljanka und Würzfleisch auf der Speisekarte, doch weiter hinten werden auch Weine aus Italien, Südafrika und Kalifornien angeboten. Im Sky-Hotel, einem ehemaligen Gästehaus für Zeitarbeiter, grüßen Topfpflanzen im Foyer, ein Schild am Buffettisch ermahnt den Gast: “Das Mitnehmen von Speisen aus dem Frühstücksraum ist nicht gestattet.” Dafür kostet ein Doppelzimmer nur 39.- Mark und ein “Apartment” mit “DU/WC, TV, Telefon, Minibar” grade 59.- Mark.

Wo sind wir? In Leuna, zwanzig Kilometer südlich von Halle, einer Stadt mit Geschichte. Das letzte Kapitel ist noch nicht zu Ende geschrieben. Wurde bei der Privatisierung der Leuna-Werke unterm Tisch gemauschelt? Wurden illegale Provisionen in schwarze Kassen gezahlt?

Doch in Leuna ist das kein Thema. “Von 27.ooo Arbeitsplätzen blieben 9.ooo erhalten, viel mehr als anderswo”, sagt der Geschäftsführer der Kulturhaus Leuna GmbH, über 1oo Unternehmen seien aus der Restemasse der alten Werke gegründet und über zehn Milliarden Mark “in Modernisierung und Neubau” investiert worden. “Das allein zählt.”

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Das beste Beispiel sei eben das neue Kulturhaus. 1927 als “Gesellschaftshaus” der alten Leuna-Werke eröffnet, diente es im Dritten Reich als “Feierabendhaus” und wurde Ende der 4oer Jahre als “Klubhaus der Werktätigen” wieder in Betrieb genommen. Seit 199o heißt der inzwischen renovierte Prachtbau “Kulturhaus” und ist eine Tochterfirma der “Infraleuna GmbH”, die ihrerseits aus der Privatisierung entstanden ist.

Wie schon zu DDR-Zeiten finden alle wichtigen Veranstaltungen im Kulturhaus statt. Hier spielt das Glenn Miller Orchestra, hier tanzt das Celtic Life Irish Dance Ensemble, hier wird “Mit Musik und guter Laune” auch volkseigene deutsche Unterhaltung angeboten.

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“Leuna ist ein schwer historischer Ort”, sagt der Intendant des neuen theaters in Halle, Peter Sodann, und zitiert den Arbeiterdichter Walter Bauer: “Vor Leuna sind viele gefallen, vor Leuna floss Arbeiterblut.” Weil sein Theater in Halle grade umgebaut wird, ist Sodann, 65, im Nebenberuf Tatort-Kommissar bei der ARD, nach Leuna ausgewichen, ins Kulturhaus. Denn für die “Wenderevue”, die er seit November 2ooo spielt, braucht er nicht nur die passende Umgebung sondern auch den richtigen Saal. Einen Raum, in dem 4oo Menschen an Tischen sitzen können, mit einer großen Bühne und zwei Eingängen. Über dem einen steht: “Sie betreten die Deutsche Demokratische Republik”, über dem anderen: “Sie betreten die Bundesrepublik Deutschland”. Drinnen hängt, wie ein Raumteiler, ein Stück Mauer an der Decke, das je nach Bedarf heruntergelassen und wieder hochgezogen wird. Auf der “DDR”-Seite steht die Warnung: “Halt Staatsgrenze Passieren und Fotografieren verboten!”, auf der “BRD”-Seite die Erklärung: “Das ist die Mauer lieber Bundesbürger!”

Wir sind also nicht nur im Kulturhaus in Leuna, sondern auch im geteilten Deutschland zur Zeit der Wende, denn über der Bühne hat man ein Transparent aufgespannt und darauf steht: “Deutsche an einen Tisch”. Auf den Tischen liegen Anträge “auf Ausreise aus der DDR”, die Rückseite der postkartengroßen Formulare verrät die Namen der Damen und Herren, die bei der Wenderevue mitmachen. “Es spielt die Uli Singer Band.” Mit der Eintrittskarte bekommen die Besucher Nachdrucke der alten Reisepässe der DDR, alle ausgestellt auf den Namen “D. Wendehals”, der “mittelgroß” ist, “graublaue” Augen und “keine” besonderen Kennzeichen hat. In der Pause stehen die Revuegäste am Tisch von Peter Sodann Schlange, um sich die “Pässe” von ihm signieren zu lassen. War es schon in der DDR schwer, Realität und Satire auseinander zu halten, hier bilden die beiden Elemente eine Einheit, die so versiegelt und so kompakt ist wie die Karosserie eines Trabbi. Zu Anfang der Vorstellung ertönt die Hymne der DDR - einige Zuschauer stehen auf und schauen sich fragend um. Diejenigen, die sitzen geblieben sind, lachen, daraufhin setzen sich die Aufgestanden wieder hin.

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“Zehn Jahre danach tut es noch immer weh”, sagt Sodann, “und viele wissen nicht, was heute richtig und was falsch ist”. Kaum ist “Auferstanden aus Ruinen…” ausgeklungen, spielt die Band “Der Junge mit der Mundharmonika” und gleich darauf erklärt ein Ulbricht-Imitator, niemand habe “die Absicht, eine Mauer zu errichten”. Sekunden später marschiert eine Einheit der NVA über den Laufsteg und singt: “War das eine Lust am 13 August, die Grenzen sind jetzt dicht, das passt so manchem nicht!” Und die Mauer fällt vom Himmel und teilt den Saal in einen Ost- und einen Westteil.

Schnitt. Günter Schabowski verliest seine berühmte Erklärung zur Ausreise und eine Trabbi-Armee setzt sich sogleich in Richtung Westen in Bewegung. Frank Schöbel singt “Ich sehe Gold in deinen Augen, ich sehe Gold in deinem Haar!” und ein DDR-Bürger ruft begeistert: “Was ist das Schönste auf der Welt? Es ist das Begrüßungsgeld!”

Eine Invasionsarmee, nur mit Einkaufstüten ausgerüstet, macht sich auf den Weg an die Shopping-Front und kehrt schwer beladen wieder in die heimatliche Etappe zurück. Einer trägt eine aufgeblasene Gummi-Puppe unterm Arm und schaut so glücklich ins Publikum, als hätte er sie schon ausprobiert. Vergeblich mahnt Christa Wolf: “Bleiben Sie bei uns, bleiben Sie in Ihrer Heimat!”

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Doch es dauert nicht lange, und die Euphorie macht einer Ernüchterung Platz. “Wo geht es denn hier zum Aufschwung Ost?” fragt ein ehemaliger Bürger der ehemaligen DDR. “Hier entlang, immer den Bach runter!” antwortet ihm ein zweiter. Und 4oo Hände rühren sich zum dankbaren Applaus.

Herr Aldi und Herr Neckermann erklären ihre Marktstrategien (“Früher habe ich die Waren aus dem Osten bezogen, jetzt bringe ich sie zurück!”), Herr Rohwedder und Frau Breuel personifizieren das Böse an sich: “Früher Zero, heute Treuhand.” Hausherr Sodann fährt mit seinen Gästen auf einer Achterbahn der Emotionen durch die jüngste deutsche Geschichte und je nach Lage und Tempo wird mal gejubelt und mal gejammert. Doch am Ende der Fahrt sehen alle ein wenig mitgenommen aus.

“Ich esse lieber Broiler als Hähnchen”, sagt ein desillusionierter Ostmensch, der sich an irgendetwas fest halten möchte, das er kennt. Denn: “Die Ökonomen haben die DDR so verändert, dass die Philosophen sie nicht mehr interpretieren können.”

Nicht alle Pointen haben ein so hohes dialektisches Niveau. Einige sind so abgewetzt, dass sie inzwischen verboten gehören. (“Wo gehts denn hier zu Aldi? - Wieso? Hat Aldi schon zu?”) Aber die Zuschauer haben ihren Spaß, sie erleben sich selber aus der Perspektive der Zuschauer, sind sozusagen Subjekt und Objekt der Geschichte zugleich. “Es ist ungeheuer, was die Leute nach zehn Jahren schon wieder vergessen haben”, sagt Sodann. Also hilft er ein wenig nach, mit einer Mischung aus “Wehmut und Heiterkeit”, denn ohne Wehmut gibt es keine Nähe und ohne Heiterkeit keinen Abstand. “Man braucht beides.” Und dann ordert Sodann ein Bier und einen Jägermeister und spricht über Dinge, die ein Westkopf nicht verstehen und ein Westherz nicht fühlen kann. Zum Beispiel die Sache mit dem Hirsch auf dem Schild “Achtung Wildwechsel!” “Es gab einen Osthirsch und einen Westhirsch. Der Osthirsch ist gesprungen und der Westhirsch ist gelaufen. Gleich nach der Wende hat man die Schilder mit dem springenden Hirsch, der wahrscheinlich über die Mauer wollte, abmontiert und den laufenden Hirsch hingehängt. Das hat Millionen gekostet, allein dieses Schild. Warum hat man es gemacht? Der springende Hirsch war doch nicht so schlecht.”

Ein Systemwechsel ist eben auch eine Art Wildwechsel, nur noch heftiger. Obwohl, sagt Sodann, “es war keine Revolution, sondern nur ein Aufstand im Gefängnis, und die Anstaltsleitung hat diesen Aufstand erlaubt”. Und geht es den Ostdeutschen heute nicht besser als je zuvor? “Natürlich, es wäre blöde, etwas anderes zu behaupten, aber sie sehen plötzlich andere Unterschiede, sie erkennen, was Marx mit dem Gesetz der relativen Verelendung gemeint hat.” Dass es einem besser geht, bedeutet nicht, dass er sich dabei gut fühlt. “Unsere Welt war geprägt von Theorien. Wir waren sicher, wir werden eines Tages den Kommunismus erreichen, und wenn dann die Klobecken aus Gold sind, würde es uns nicht stören. Wir wollten ein Paradies auf Erden.”

Und dann kamen Aldi und Obi, Lidl und Norma, viel besser als HO und Konsum, aber viel schlechter als das Paradies, auf das man gehofft hatte. “Wie soll ich es Ihnen erklären”, sagt Sodann und bestellt noch ein Bier und einen Jägermeister, “die Menschen in der ehemaligen DDR vermissen heute etwas, das sie verloren haben, obwohl sie es nie hatten, zum Beispiel die Mitbestimmung. Verstehen Sie?” - Nein, nicht ganz. “Früher haben wir das nicht gehabt, was wir wollten, jetzt haben wir es und haben es doch nicht. Wir sind ein besetztes Land, in den leitenden Funktionen überwiegen die Westbürger knallhart.” Der Groll der Ostdeutschen, meint Sodann, der am 1. Mai in Halle eine Kundgebung unter dem Motto “Lieber reich und gesund als arm und krank” organisiert hat, “kommt daher, dass man verloren hat, was man nicht hatte, aber gedanklich hat man es gehabt, es war da, in unseren Köpfen, unseren Phantasien…” Das sei alles sehr kompliziert, “aber der Mensch ist eben ein sehr kompliziertes Wesen”.

Um es einfacher zu machen, bestellt Sodann noch ein Bier und noch einen Jägermeister und greift zu Brecht. “Reicher Mann und armer Mann, standen da und sahen sich an. Und der arme sagte bleich: wär ich nicht arm, wärst du nicht reich.”

Das ist eine Formel, die immer und überall gilt. Die das Verhältnis zwischen den Menschen im allgemeinen und den Ostdeutschen und den Westdeutschen im besonderen erklärt. Die Sodann zum Wahnsinn treibt aber auch mit Hoffnung erfüllt. Die er den Leuten ständig um die Ohren hauen muss. Denn das Theater ist “nicht nur eine moralische Anstalt, die Werte zwischen gut und böse vermitteln kann, es ist auch eine therapeutische Anstalt, und die Wenderevue ist ein therapeutischer Vorgang”. Die Besucher würden die Vorstellung “nicht geheilt aber doch getröstet” verlassen. Und um manche Einsicht reicher, zum Beispiel die: “Es war nicht alles gut in der DDR, es ist aber auch nicht alles schlecht in der Bundesrepublik Deutschland.”

Nächste Vorstellungen: 15., 16., 22. und 23 Juni

2.6.2001

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