Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

20.06.2001   13:06   +Feedback

Heilige Kuh in Goethes Garten

An der Universität Weimar gibt es seit fünf Jahren eine Fakultät Medien und seit einem Jahr eine Professur für Medienereignisse - seitdem ist die Goethestadt eine weitgehend nazifreie Zone.

Im Foyer des Hauptgebäudes steht eine Skulptur von Rodin, aber es ist nicht der Denker, sondern eine nackte Frau. Und keine Kopie, sondern ein Original. An einer Dozententür hängt der Spruch: “Drum klaut Ideen und verschenkt die besten!” Am Schwarzen Brett wird eine Vorlesung über “Die Notwendigkeit des Überflüssigen” angekündigt und das nichtkommerzielle “Lokalradio Lotte”, Frequenz 1o6,6, sucht Mitarbeiter und bietet ihnen Scheine für ein Medienpraktikum an.

Und das soll eine Uni sein? Ein deutscher Studienbetrieb? Eine höhere Lehr- und Lernanstalt?

“Wir sind anders”, sagt Walter Bauer-Wabnegg, seit 1997 Professor für “multimediales Erzählen” an der Fakultät Medien, “wir setzen auf Mobilität und Flexibilität.” Der Theologe, Germanist und Kafka-Experte wird Ende Juni in sein Amt als Rektor der Bauhaus-Universität Weimar eingeführt. Er spricht von “einem Klima des Dauerexperiments, einer Art Labor mit viel Spielcharakter und Freiräumen”, das er erhalten und pflegen möchte. Sein Kollege Lorenz Engell, Professor für Wahrnehmungslehre, Geschichte und Theorie der Kommunikation und der Medien, “ein Professor für alles und nichts”, war der Gründungsdekan der Fakultät Medien: “Wir verändern ständig unsere eigene Struktur. Demnächst führen wir die Pizzawissenschaft als Studienfach ein - nein, nicht wirklich.”

Klicken zum Vergrößern Klicken zum VergrößernKlicken zum Vergrößern

Und würde es doch passieren, niemand wäre überrascht. Denn in Weimar, “einer Kleinstadt, die mit Mythen überfrachtet ist” (Engell), scheint derzeit alles möglich. Ende 1995 wurde die alte DDR-“Hochschule für Architektur und Bauwesen” in “Bauhaus-Universität” umbenannt. Man wollte an die Bauhaus-Tradition anknüpfen, die “Einheit von Kunst und Technik” wiederbeleben. Schon 1993 war die Fakultät “Gestaltung” gegründet worden, 1996 folgte die Fakultät “Medien”, an der inzwischen 12 Professoren über 6oo Studenten unterrichten. Im Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemster 2oo1 wird ein buntes Programm angeboten: Neben einem Seminar “Zur Philosophie des Politischen”, in dem Texte von Thomas Hobbes über Karl Marx bis Carl Schmitt diskutiert werden, steht eine Vorlesung über “Reeducation - Um-Erziehung zur Demokratie” und ein Kolloqium für Diplomanden und Doktoranden, das immer freitags stattfindet und deswegen “Der Schwarze Freitag” heißt. “Uns macht die Arbeit Spaß”, sagt Engell, “aber am Ende muss eine Leistung stehen”.

Vor einem Jahr wurde an der Fakultät Medien, die es in dieser Form an keiner anderen Hochschule der Bundesrepublik gibt, eine “Professur für Medienereignisse” eingerichtet, auch dies ein absolutes Novum in der Welt der Wissenschaft. Und eine Notwendigkeit angesichts des kaum noch überschaubaren Angebots. “Je mehr Medien es gibt, umso mehr Ereignisse treten auch ein”, sagt Wolfgang Kissel, der zum ersten “Professor für Medienereignisse” berufen wurde.

Was wie eine späte Dada-Aktion zu Ehren von Kurt Schwitters klingt, ist erstens vollkommen ernst gemeint und zweitens theoretisch solide unterfüttert. “Die Medien neigen dazu, die Wirklichkeit aus dem Modus des Zustands in den einer Kette von Ereignissen umzuformen, denn nur Ereignisse sind kommunizierbar, nicht aber Zustände”, doziert Kissel und zieht daraus die Konsequenz: “Medienereignisse sind Ereignisse, die wir als Events, Fakes oder auch Skandale öffentlich inszenieren können”, dabei komme es darauf an, “eigene Akzente zu setzen” und die “Projekte” so zu konstruieren, “dass wir der medialen Reaktion immer ein Schritt voraus sind”.

Soll heißen: Während durch Berichte Nachrichten kreiert werden, die keine sind - Hat sich Babs Becker den Busen vergrößern lassen? Warum gibt Dieter Bohlen keine Interviews mehr? Was macht Naddel im Urlaub allein auf einer Insel? - will Kissel die korrekte Ordnung der Dinge herstellen, indem er Ereignisse produziert, die eine Berichterstattung wert sind. 1997, als er noch nicht Professor an der Fakultät Medien war, sondern nur Dozent, da hat er das Projekt “Die heilige Kuh” inszeniert. Es ging darum, “ein neues Wahrzeichen für Weimar” zu finden.

Er fand ein Kalb namens Hans, “es war sehr klug und sehr neugierig”, und führte es am Strick durch die Stadt. “Es war ein Weimarer Kulturereignis, wir wurden fotografiert und gefilmt.” In der ADAC-Zeitschrift wurde das Happening als “verkehrsberuhigende Maßnahme” gelobt, die dazu beitragen würde, dass die Menschen mehr aufeinander und auf den Verkehr acht geben, “weil jederzeit eine Kuh um die Ecke kommen kann”; und beinah, freut sich Kissel noch nach fast vier Jahren, “hätte die ARD die Geschichte für die Tagesthemen angekauft und wir wären als nationale Nachricht dabei gewesen.” Doch auch als lokale Nachricht war “die heilige Kuh” ein Hit. Vor allem das “Kuhfladen-Roulette”, in Sichtweite des Goethe-Gartenhauses im Ilm-Park, war sehr beliebt, denn als ersten Preis gab es “ein Wochenende in Weimar” zu gewinnen, gestiftet von einem großen Hotel der Stadt.

Noch mehr Aufsehen schaffte er mit einer Aktion gleich zu Beginn seiner Professur im Frühjahr 2ooo. Nachdem die NPD angekündigt hatte, sie würde am 1. Mai durch Weimar marschieren, wo die Nationalsozialisten bereits 193o schon einmal die Macht ergriffen hatten, bildete sich in der Stadt eine “AG 1. Mai”, um den braunen Aufzug zu verhindern. “Es war ein breites Aktionsbündnis aller Kulturinstitutionen, Hochschulen und Parteien, einschließlich CDU und PDS, von diesem Bündnis zehrt die Stadt noch immer.” Kissel und seine Studenten prägten den Slogan “Leise Sohlen gegen laute Parolen”, die Weimarer Bürger wurden aufgefordert, Pantoffel zu spenden, die an die NPD-Leute verteilt werden sollten, damit sie mit ihren Stiefeln das historische Pflaster der Stadt nicht beschädigen.

“Den Pantoffel als Symbol einzusetzen, war eine studentische Idee”, sagt Kissel, “einer kam darauf beim Brainstorming in einer Kneipe nach Mitternacht”. Der Rest ergab sich assoziativ. “Wir haben einfach Pantoffelhelden positiv definiert und bei Pantoffelheldenstadt haben wir versucht, den Begriff Heldenstadt auf seinen eigentlichen Sinn zurück- zuführen. Das waren im sowjetischen Kontext Städte, die den Nazis Widerstand geleistet haben.”

Plakat zu Kissels Pantoffel-Happening

So wurden die Weimarer Bürger zu “Pantoffelhelden” und Weimar zu einer “Pantoffelheldenstadt”. Die Thüringer Allgemeine druckte eine ganze Seite, auf der nur ein Pantoffel zu sehen war, dazu die Parole “Leise Sohlen gegen laute Parolen”, die Weimarer Hotels hissten Pantoffelfahnen, auf dem Bahnhofsvorplatz türmten sich Berge von Hausschuhen, die später von der Caritas eingesammelt wurden. Die Stadt wurde von ihren Einwohnern “besetzt”, die überall ein großes Straßenfest feierten. Dabei wurde auch ein Hip-Hop-Song gespielt “Pantoffelhelden sind Menschen wie du und ich”, produziert von einem Rapper aus Weimar. “Man musste den Stadtraum sichern, damit andere ihn nicht übernehmen konnten”, erklärt Kissel das Prinzip.

Während die Weimarer ihren Spaß hatten, blieb die NPD der Stadt fern. Auch ein weiterer Versuch der Partei, durch Weimar zu marschieren, wurde drei Wochen später auf die gleiche Art verhindert. Da gab es außerdem noch ein “Pantoffelrennen” für Kinder jeden Alters vor dem Schillerhaus.. Und alles wurde, darauf legt Wolfgang Kissel, der Professor für Medienereignisse an der Bauhaus-Universität, größten Wert, auf Video dokumentiert. “Wir machen keine Trockenübungen, sondern konkrete Projekte in der politischen Praxis.”

Klicken zum Vergrößern Klicken zum VergrößernKlicken zum VergrößernKlicken zum Vergrößern

Kissel, 1963 in Koblenz geboren, in Rheinbach bei Bonn aufgewachsen und dennoch von der rheinischen Mentalität nicht angekränkelt, hat an einem katholischen Internat Abitur gemacht und anschließend in München und Hamburg Kommunikationswissenschaften und visuelle Kommunikation studiert. Der Kriegsdienstverweigerer aus Überzeugung ging im Winter 1988 als DAAD-Stipendiat nach Potsdam, an die Filmhochschule Babelsberg, “als erster Westdeutscher”. Damals haben ihn seine Freunde gefragt: “Warum machst du das, warum tust du dir das an?”, worauf er antwortete: “Ich werde Erfahrungen machen, die ihr nie machen werdet.” Er sollte recht behalten. “Ich habe die Mauer von der Ostseite fallen sehen.”

Auch sonst war die Zeit im “Defa-Studio für Dokumentarfilme Potsdam-Babelsberg, Betriebsteil Klein-Machnow, Gruppe Effekt” gut und nützlich. Er lernte das Filmemachen und führte beim letzten Doku-Film, der von der Defa hergestellt wurde, die Regie: “Kinder, Kader, Kommandeure”, eine 9o-Minuten-Originalton-Dokumentation über 4o Jahre DDR-Propaganda. Seitdem weiß er, was Realsatire vermag. Und dass es sie nicht nur im staatlichen DDR-Fernsehen gab. Kissel hat sich eine Kopie der “Friedman”-Sendung mit Prinzessin Gloria von Thurn und Taxis besorgt und führt sie seinen Studenten vor. Die Prinzessin erzählt “lustige Geschichten” aus ihrem Leben, sagt: “Sex ist dazu da, um Kinder zu kriegen und nicht für Jux und Dollerei”, dann fällt der Satz, über den sich die ganze Republik aufgeregt hat.: In Afrika “sterben die Leute an AIDS, weil sie zu viel schnackseln, der Schwarze schnackselt gerne”. Gleich darauf erklärt die Prinzessin, dass man sich AIDS auch “beim Oralverkehr” holen kann, sie nimmt das Wort innerhalb einer Minute gleich dreimal in den Mund.

“Genug”, sagt Kissel und hält das Band an, “dieser Witwenkatholizismus ist nicht glaubwürdig”. Gloria haben einfach “einen Lacher gebraucht”. Und dann führt Kissel ein zweites Video vor, das zwei seiner Studenten aufgenommen haben. Sie sind mit dem Musiker Marc Hofmann-Frank nach Regensburg gefahren, dem Sitz der Familie von Thurn und Taxis. Der Sohn eines Afrikaners und einer Deutschen hatte sich als “Reichshauptschnackselführer” verkleidet und wollte der Prinzessin Gloria für ihren Auftritt bei Friedman “das Mutterkreuz in Bronze” bzw. den “Schnacksel-Orden” am Band überreichen. Um die Aktion stilistisch abzurunden, hatte er einen deutschen Schäferhund namens “Adolf” als Begleiter mitgenommen.

Hofmann-Frank schaffte es bis in den Innenhof des fürstlichen Schlosses, wo er sich aufbaute und in einem schnarrenden Tonfall eine Ansprache hielt: “Ich bin hier in einer Mission von höchster Brisanz ... die Sache duldet keinen Aufschub ... haben Durchlaucht heute bereits geschnackselt? ... die arische Rasse schnackselt einfach zu wenig ... es schnackselt nur noch der Neger in Afrika ... seit 5 Uhr 45 wird zurück geschnackselt ...”

“Es war seine Performance, die wir nur aufgezeichnet haben”, sagt Kissel, ein wenig unglücklich über das Ergebnis. Denn erstens war Hofmann-Frank “beratungsresistent”, zweitens hat er es versäumt, rechtzeitig eine Presseerklärung abzugeben, weswegen in den lokalen Blättern von einer NS- bzw. SS-Uniform die Rede war, “während er eine Feuerwehrjacke und eine Reiterhose an hatte, um vor einer brenzligen Situation zu warnen und auf die Biedermänner und Brandstifter aufmerksam machen”. Erst zwei Wochen nach der Aktion hat Prinzessin Gloria auf die Provokation reagiert und Strafanzeige gegen Hofmann-Frank und seine Begleiter gestellt.

“In der Dramaturgie eines Skandals muss es einen Verlauf geben” sagt Kissel und fragt: “Wie könnte es weiter gehen?” Auch die Studenten wissen es nicht. Nur wenn es zu einem Verfahren wegen Hausfriedensbruchs gegen den Aktionskünstler kommt, kann der Skandal weiter gehen und entsprechend dokumentiert werden.

Kissels nächstes Projekt (“Salve Sulza”) ist dagegen viel aufwendiger, zugleich aber auch einfacher umzusetzen. Eine Kopie des Gartenhauses, das Goethe 1776 bezog, soll Anfang Juli von Weimar nach Bad Sulza, “das liebliche Städtchen an der Ilm”, geschafft und dort aufgebaut werden. Bad Sulza, vermutet Kissel, “war wahrscheinlich der einzige Ort, den Goethe nicht besucht hat”, deswegen sei es “eine reizvolle Aufgabe, ihn da neu zu positionieren und Bad Sulza national und international aufzuwerten”. Kissel arbeitet an einem “Nutzungskonzept für den neuen Standort”; mit Theater, Musik, Lesungen soll der “Ruf der frisch gebackenen Goethestadt” überall zu vernehmen sein, natürlich mit Hilfe der Medien, die Teil des Projekts sind, entsprechend der Regel: “Medienereignisse sind Ereignisse, die ohne die Medien niemals stattfinden würden.”

Die “Pantoffelheldenstadt” Weimar ist inzwischen nicht nur “eine weitgehend nazifreie Zone” (Kissel), in der Ausländer willkommen sind, es scheint auch, als würden die guten Geister wieder kommen, die schon Großherzog Carl Alexander förderte, als er 186o die Weimarer Kunstschule gründete. Später haben Henry van de Velde und Walter Gropius Maßstäbe gesetzt, die auch nach fast 1oo Jahren noch gelten. “Man spürt hier die Nachbeben des Bauhauses”, sagt Kissel, “es ist das, was die Nazis nicht kaputt kriegen konnten und die DDR auch nicht. Und was die Nazis nicht zerstört haben, das kriegt keiner klein.”

Entsteht also an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität die Keimzelle für eine Weimarer Republik der Künste? “Wir stehen noch ganz am Anfang, wie das Bauhaus in seiner anarchischen Frühphase”, sagt Kissel “wir suchen, üben und probieren, wir sind das neue Deutschland”.

Die Weimarer Pantoffel-Homepage:www.weimar.de/pantoffelhelden

20.6.2001

Permanenter Link

Uncategorized