Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

16.09.2001   13:03   +Feedback

Kinderleben

Von Renée Zucker

Kinderbilder, die wir nicht so schnell vergessen.

Bild 1, Nordirland: Zu Tode erschrockene und weinende Mädchen, die - von ihren protestantischen Nachbarn, beschimpft, bespuckt, bedroht - durch einen schwerbewaffneten Polizeikordon geschützt werden müssen, um die katholische Schule durch den Haupteingang zu betreten, der in einer protestantische bewohnten Straße liegt. Ihre Mütter und Väter haben so entschieden. Der Hintereingang liegt in einer katholisch bewohnten Straße. Vielleicht würden die Kinder ihn viel lieber benutzen. Bild 2, Florida: Brav und aufmerksam schauen die sauber gekämmten Schüler aus Florida hinter George Bush in die Kamera. Eben noch hatte der Präsident ihnen aus einem Buch vorgelesen. Vielleicht hatte er ihnen, wie zuvor einer anderen Schulklasse auch, erklärt, warum die Raketenabwehr für Amerika so lebenswichtig ist. Minuten später haben die brennenden Tower des World Trade Center in New York gezeigt, dass der amerikanische Präsident aufs falsche Pferd gesetzt hat. Vielleicht sah er deshalb so leer und ratlos aus, als er sein erstes Statement hielt. Bild 3, Ostjerusalem: Begeisterte Kinder tanzen, johlen und freuen sich über den Treffer ins Herz der ökonomischen Macht Amerika - so wie ihre älteren Geschwister, ihre Mütter und Väter getanzt haben, als die ersten Scuds auf Tel Aviv abgefeuert wurden… Der Feind ist empfindlich getroffen worden. Die Börse macht weiter, sie weiß, wie herzlos der Kapitalismus sein kann.

Das Bedrückende an diesen Bildern: Sie zeigen uns unsere Zukunft und die Zukunft unserer Kinder. Die Zukunft der nordirischen, der palästinensischen, der amerikanischen Kinder wird von den Erwachsenen von heute bestimmt. Sie werden zu unserem Bild von den Verhältnissen erzogen. “Geschlagen ziehen wir nach haus, die Enkel fechten’s besser aus?” Nein: Sie werden’s schlimmer ausfechten. Ob sie wollen oder nicht. Die katholischen Kinder aus Irland können vermutlich während ihrer ganzen Schulzeit nicht selbst entscheiden, ob sie ihre Schule durch den Haupt- oder Nebeneingang betreten wollen, ob sie später mal Buddhist sein möchten oder einen Protestanten lieben möchten. So wenig, wie die palästinensischen Kinder eine freie Wahl haben werden auf ein zufriedenes, gemütliches und angstfreies Erwachsenenleben.

Die Zukunft hat ihre Unschuld verloren. Sie ist vorhersehbar geworden, oder wie es bei Jan Delay heißt: Alles ist vergiftet.

Als die Mauer fiel, haben wir in Westberlin freudig gehofft und ein bißchen befürchtet, dass es nun mit dem Leben auf der Insel vorbei sein würde. Jetzt stellen wir fest, dass die Insel inzwischen nur voller geworden, das Meer drumherum unruhiger geworden ist und größere Wellen wirft. Und die Kinder in Florida, die vom Präsidenten etwas vorgelesen bekamen, haben sie eine bessere Wahl? Oder lernen sie jetzt, dass nur dort wo sie sind, Zivilisation herrscht? Ihr Präsident hat darauf schon eine Antwort gegeben: “Wir werden nicht unser Leben verändern noch unsere Freiheiten einschränken.”

16.9.2001

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