Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

02.10.2001   13:02   +Feedback

Fremde Federn: Muslimisches Arabien und die Angriffe auf die USA

Eine Bestandsaufnahme von Motiven

Wie interpretieren muslimischeAraber die Geschehnisse in den USA?

“Allah vergisst nichts! Allah zahlt heim. Nicht sofort, aber im rechten Moment!”

Dies ist eine aus dem Koran zitierbare Interpretation. Sie wird von den meisten hier geteilt. Es wird also nicht wirklich getrauert, Anteil genommen. Es wird Rechtschaffenheit und Befriedigung gefühlt.

(Soeben habe ich ein Memorandum des Vorstands der Universität erhalten, an der ich lehre. Mir wird darin mitgeteilt, dass es zu Übergriffen und Demonstrationen kommen kann. Das Memorandum ist diesem Text beigefügt.)

Weiterhin ist anzuführen, dass sich die muslimisch-arabische Welt vor allem von den demokratischen Innovationen (gewählte Regierung, zweifach kontrolliertes Parlament, Emanzipation der Frau, etc.) bedroht fühlt. Denn neben den Religionen stoßen auch zwei Gesellschaftstypen aufeinander, die in ihrer Entwicklung mehr als tausend Jahre auseinander liegen: Stammesgesellschaft und funktional differenzierte Gesellschaft (= Moderne).

Merkmale der Stammesgesellschaft sind Einschränkung der weiblichen Souveränität, Sippenkultur, simples Familiengrundmuster des gesamten Lebens (1 Frau - 3 Männer: Vater, Mann, Sohn). Status wird vererbt. Religion ist Gesetz. Regierung ist nicht justitiabel. Etc.

Merkmale der Moderne sind Aufhebung der Sippengesellschaft (Adlige und Bürgerliche), Arbeitsteilung (Justiz, Verwaltung, Wissenschaft). Der Mensch integriert sich über seine Werte, Bildung und Engagement in die Gesellschaft (= Freiheit). Seinen Status (i.S.v. Stellung, Ansehen) muss er sich neu erarbeiten und verteidigen. Religion ist Bestandteil der Kultur, zu dem nur eine geringe Minderheit Zugang findet. Religion ist von Wissenschaft und Administration entkoppelt. Gesetz ist eine demokratisch legitimierte Verfassung. Regierung ist justitiabel. Etc.

Die muslimisch-arabische Gesellschaft sieht die Moderne ausnahmslos als eine Bedrohung an (es fällt auch gelegentlich der Begriff: “exotische Absonderlichkeit”). Gleichzeitig ist sie an ihren technologischen Innovationen sehr interessiert. Beispiele sind Medizin, Kraftfahrzeugtechnik, landschaftliche Bewirtschaftung, etc. Aber sie ist nicht daran interessiert, um ihre Kultur zu entwickeln und technologischen Fortschritt selbst zu vollziehen. Sie ist daran interessiert, den technologischen Stand anzuwenden, um ihn zur Vernichtung der Moderne zu benutzen.

(VAE-Bildungsminister Sheikh Nahyan hat vor einigen Tagen gesagt “The protection of our culture is the world’s greatest challenge!”)

Hier widerspiegelt sich auch ein Grundkonflikt in den Denkmustern zwischen Clangesellschaft und Moderne: In der muslimisch-arabischen Welt werden alle Innovationen auf Interpretationen des Korans zurückgeführt. So wird durch Gelehrte ausführlich dargestellt, dass Darwins Erkenntnisse, Einsteins Aussagen, von Brauns Nukleararbeiten, etc. bereits im Koran geschrieben sind. Es geht sogar soweit, dass Definitionen von Algorithmen (z.B. das Fahren eines Autos) aus dem Koran zitiert werden.

Dabei bieten (Bibel und) Koran bestenfalls Bilder. Und immer ist es so, dass zunächst die Innovation erarbeitet (gefunden) und dann ein passendes Bild gesucht werden musste. Auch sind (Bibel und) Koran keine Wissenschaften, sondern Geschichten gewesen. Dass sie zur Wissenschaft verpfuscht worden sind, motivierte sich durch den eigenen Missbrauch. Sie ermöglichen Bilder wie z.B. das Ertragen von Schmerz, die Gewissheit auf Linderung, die Notwendigkeit des Selbstzweifels. Und glücklich ist der, der in Interpretation dieser Bilder zu einem glücklichen, friedlichen Leben findet. Nach eigenen Bedürfnissen, Gefühlen und Streben.

Das Grundmuster muslimisch-arabischen Denkens ist es, alles so zu belassen wie es Prophet Mohammed bei seiner Abreise vorgefunden hat. Die Veränderungen, die durch die Moderne “aufgezwungen” worden sind, sind durch Studium der Technologien zu vernichten.

Jedoch ist Arabien heute mehr als je zuvor der Moderne ausgeliefert. Arabien ist von der Moderne vollständig technologisch, intellektuell und finanziell abhängig. “We have everyone proven wrong. But in fact we can even not protect us and our brothers”, hat Malaysias PM, Dr. Mohammed, erst vor einigen Wochen auf einem Kongress in Dubai gesagt.

Dies bedeutet also, dass die einzig wahren Gläubigen total von den Fehlgeleiteten und Nichtlebenswürdigen abhängig sind. Das schmerzt und facht den Hass gegen die Moderne um so mehr an.

Somit ist auch ein weiteres Grundmotiv des Angriffs zu verstehen, wenn Arabien sagt, dass es sich um einen Kampf der Unterdrückten gegen die Unterdrücker handelt. Es handelt sich im eigentlichen Sinne aber um den Kampf der Gläubigen gegen die Ungläubigen.

Es ist ableitbar, dass es sich bei dem Anschlag gegen die USA nicht um einen Terroranschlag á la carte, sondern um eine Kriegshandlung der muslimisch-arabischen Welt gegen die Moderne handelt. Es handelt sich um die aktive Ausführungen eines bisher mental geführten Krieges.

2.10.2001

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