Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

20.01.2002   12:06   +Feedback

USA-Tagebuch

Nation im Alarm-Zustand USA-Tagebuch Winter 2001/02

Suche nach der Friedensbewegung Conchita, Don und Ichi

“Es gibt keine Friedensbewegung in den USA seit dem 11. September”, sagt Jacob, während er seinen Red Snapper auf dem Teller in kleine Stücke teilt. Der Fisch kommt aus der Kühltruhe, der Rotwein aus Italien. Das war auch vor dem 11. September so. Einiges hat sich also nicht geändert. Aber sollte es wirklich keine Friedensbewegung mehr in den USA geben? Ich kann es kaum glauben. “Nicht mal unter den Linken in Berkeley”, sagt Jacob und gießt sich noch ein Glas Wein ein. “Aber schau dich am Weißen Haus um, ab und zu steht da einer rum und hält ein Plakat hoch: Stop the War!”

Obdachlose Conchita: Blaue Steine gegen den Krieg (Foto: Henryk M. Broder)

Am nächsten Tag mach ich mich auf den Weg. Vom Dupont Circle über die Connecticut Avenue, vorbei an Brook’s Brothers, Filene’s Basement und dem wunderbaren Hotel Mayflower bis zur Pennsylvania Avenue, dann ein Stück nach links, und schon stehe ich vor dem Weißen Haus. Für Autos ist die Straße gesperrt, zu Fuß kann man bis an den Zaun rangehen.

George W. Bush ist nicht mehr von Pappe

Am Eingang hängt ein DIN-A-4 großes Blatt mit einem wichtigen Hinweis für Touristen: “Bis auf Weiteres finden keine Führungen durch das Weiße Haus statt.” Ein Glück, dass ich vor einem halben Jahr eine Tour mitgemacht habe, denke ich. Weil keine Touristen da sind, sind auch die Marketender nicht da. Im Frühjahr konnte man sich noch neben einem George W. Bush aus Pappe in Originalgröße fotografieren lassen, für nur vier Dollar. Jetzt ist der Fotograf mit seiner Polaroid-Kamera weg. Schade, ich hätte ihn gerne gefragt, was er am 11. September gemacht hat.

Friedensbewegter Don: “Convert The War Machines!” (Foto: Henryk M. Broder)

Dafür ist Conchita noch immer da, Conchita Picciotto, die seit 20 Jahren ununterbrochen und unbeirrt vor dem Weißen Haus ihre Mahnwache gegen den Atomkrieg hält. “White House Anti-Nuclear Peace Vigil - 24 HRS A Day - Since 1981” steht auf ihrer Visitenkarte, die sie jedem in die Hand drückt, der vor ihrem Lager stehen bleibt. Genau genommen ist Conchita eine Obdachlose, die sich vor dem Weißen Haus nieder gelassen hat und von ihrem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch macht. 1960 aus Spanien eingewandert, hat sie sowohl den spanischen wie den amerikanischen Pass. “Sie können mich nicht ausweisen, aber sie haben mich schon mal verhaftet, es war ein ungesetzlicher Akt.”

Einmal am Tag zu McDonald’s

Während sie Tag und Nacht gegen den Atomkrieg protestiert, malt sie kleine und große Flusssteine blau und rot an. Dann kommt eine weiße Friedenstaube drauf und fertig ist ein Souvenir. Pro Stein nimmt sie drei bis fünf Dollar. Von den Einnahmen geht sie einmal pro Tag zu McDonald’s und zum Copyshop um die Ecke, damit sie immer genug Fotokopien der Artikel hat, die über sie geschrieben wurden. Es ist eine eindrucksvolle Sammlung von Ausschnitten aus England, Holland, Spanien, Irland, Korea, Italien, China, Japan und - Ägypten. “Man kennt mich überall in der Welt.” Nur in Washington selbst wird sie nicht richtig wahrgenommen, obwohl sie die unmittelbare Nachbarin des Präsidenten ist.

Buddhistin Ichi: drei Tage Hungerstreik für den Frieden (Foto: Henryk M. Broder)

Schräg gegenüber dem kleinen Biwak von Conchita sitzt Don auf einem hölzernen Thron und füttert zahme Eichhörnchen mit Erdnüssen. Don, 1954 in Florida geboren, ist der Repräsentant des “Proposition One Committee”, das seit Jahren für die totale Abrüstung eintritt: “Convert The War Machines!” ist das Motto der Gruppe. “Wir sind im ganzen neun Leute, ich mache meistens die Tagschicht, für die Nachtschicht bin ich schon zu alt.” Don war Bauarbeiter, bevor er Friedensaktivist wurde, er wohnt mietfrei bei einem Freund und lebt davon, “was die Leute so wegwerfen, und es wird bei uns sehr viel weggeworfen, vor allem Essen und Kleider”.

Und dann ist da noch Ichi, eine buddhistische Nonne aus Japan, die seit drei Jahren in einem Tempel in Albany im Bundesstaat New York lebt. Sie hockt im Schneidersitz auf der Straße und singt. Bevor sie vor nur vier Jahren Nonne wurde, war sie Fotografin und hat für einen großen japanischen Konzern gearbeitet. Jetzt ist sie nach Washington gekommen, um vor dem Weißen Haus für den Frieden zu fasten. “Ich habe Hunger, ich habe seit drei Tagen nichts gegessen, nur Wasser getrunken.” Vier Tage will sie noch durchhalten und dann nach Albany zurückfahren. Ich ziehe mein Handy aus der Tasche, rufe Jacob an und erzähle ihm von Conchita, Don und Ichi. Jacob freut sich. “Das ist unsere Friedensbewegung! Es gibt sie noch! Ich hätte nicht gedacht, dass es so viele sind.” - Ich glaube, er meint es ernst.

20.1.2002

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