Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

20.01.2002   12:06   +Feedback

USA-Tagebuch

Nation im Alarm-Zustand USA-Tagebuch Winter 2001/02

Glück im Unglück Love Is In The Air

Auf so eine Idee können nur die Amis kommen, und das nur kurz vor Weihnachten. Im Kennedy Center of the Performing Arts am Ufer des Potomac und direkt neben dem Watergate-Hotel geben über hundert Tuba- und Sousafon-Musiker ein Konzert: “Merry Tuba Christmas!” Sie spielen das ganze Weihnachtsprogramm rauf und runter, von “Stille Nacht…” bis “Jingle Bells”, etwa 500 Besucher, überwiegend Familien mit Kindern, hocken auf dem Boden vor der “Millennium Stage”, freuen sich und singen mit.

Im Souvenier-Geschäft gibt’s die Twin Towers (Foto: Henryk M. Broder)

Es ist, das versteht sich von allein, das größte Tuba- und Sousafon-Orchester der Welt, geleitet wird es von Harvey G. Philips, einem schwer übergewichtigen Herren, der als “der Paganini der Tuba” gilt. Er sagt die Stücke an, erzählt Geschichten von Santa Claus (“He brings Toys to good Girls and Boys”) und bittet zwischendurch um einen “Moment of Silence” für die Opfer der Anschläge vom 11. September. Vom Kennedy-Center bis zum Pentagon sind es genau drei Metro-Stationen.

“Bin Laden hat uns Glück gebracht”

Etwa in der Mitte des Saales sitzt ein Paar, dem man ansehen kann, wie glücklich es ist. Ellen und Robert, beide etwa 40 Jahre alt. Sie wurde in der DDR geboren, er irgendwo im Mittleren Westen der USA. Kennen gelernt haben sie sich vor ein paar Wochen über eine Internet-Partner-Agentur. “Es war nach dem 11. September”, sagt Ellen. Alle persönlichen Geschichten, die in Washington erzählt werden, fangen entweder mit “Es war vor…” oder “Es war nach dem 11. September” an.

Tuba- und Sousaphon-Orchester: Natürlich das größte der Welt (Foto: Henryk M. Broder)

Ellen hat Kunst studiert, kam im August nach Washington, um in einem der großen Museen an der Mall an einem Projekt mitzuarbeiten. “Am 11. hatten wir eine Besprechung, ich war erkältet und dachte: Hoffentlich ist sie bald vorbei.” Gegen zehn Uhr wurde das Museum geräumt, Ellen machte sich zu Fuß auf den Weg nach Hause. “Ich ging am Weißen Haus vorbei, dann am FBI-Gebäude, schließlich am Kapitol. Es war an diesem Tag nicht unbedingt der sicherste Weg, aber das fiel mir erst ein, als ich zu Hause war.”

Ihr zweiter Gedanke war: “Gott sei Dank haben sich die Terroristen mit den USA angelegt, die Europäer würden gleich kapitulieren.” Ellen packte ihren Laptop und ein paar Dokumente in eine Tasche, machte den Fernseher an und wartete, was noch passieren würde. “Ich dachte, ich müsste die Stadt zu Fuß verlassen. Alle Straßen waren verstopft oder gesperrt.” Sie blieb daheim, zwei Tage später war sie wieder an ihrem Platz im Museum. “Aber ich wollte nicht mehr allein sein, nicht allein vor dem Fernseher sitzen und nicht allein essen.” Ellen ging ins Internet, die Adresse hatte sie von einer Freundin: http://www.match.com. Sie fand eine Anzeige von Robert, schickte ihm eine Mail, die “Profiles” passten zueinander, alles Übrige ergab sich ganz natürlich. “Man könnte sagen: Bin Laden hat uns Glück gebracht.”

Sternenbanner im Megaformat (Foto: Henryk M. Broder)

“Jetzt erst recht”

Nach dem Merry-Tuba-Christmas-Concert fahren Ellen und Robert nach Alexandria, eine halbe Metro-Stunde südlich von Washington, vorbei am Pentagon und National Airport. Alexandria, Mitte des 18. Jahrhunderts von schottischen Händlern gegründet, ist die Spaß-Stadt der Washingtoner. Sie kommen hierher, um schick zu essen und elegant einzukaufen. Es ist acht Uhr abends und nicht viel los in der King Street, wo die meisten Lokale und Geschäfte liegen. Sie sind entweder geschlossen oder fast leer. Und das liegt nicht nur am Wetter.

Patriotische Symbole verkaufen sich derzeit besonders prima (Foto: Henryk M. Broder)

Obwohl die Amerikaner immerzu aufgerufen werden, auszugehen, einzukaufen und zu reisen, bleiben viele lieber zu Hause. Ein trotziges “Jetzt erst recht!” kommt vor allem in Symbolen zum Ausdruck. Vor dem “Hard Times Cafe” parkt seit Wochen ein Pick-up aus den fünfziger Jahren mit einer riesigen Fahne über der Ladefläche, über dem Eingang zum Rathaus wurde ebenfalls das Sternenbanner im Mega-Format aufgezogen, die Souvenir-Geschäfte verkaufen T-Shirts mit patriotischen Motiven und solche, auf denen die Twin-Towers noch stehen, und im Fenster von “Bugsy’s Pizza Restaurant” hängt ein Bild von einem Mann in Uniform: Commander Patrick Dunn.

Er war Stammgast bei Bugsy’s, “our longtime Customer and Friend”. Patrick Dunn wurde am 31. Januar 1962 geboren. Er starb am 11. September 2001. Osama Bin Laden hat nicht allen Glück gebracht.

20.1.2002

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