Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

20.01.2002   12:06   +Feedback

USA-Tagebuch

Nation im Alarm-Zustand USA-Tagebuch Winter 2001/02

Washingtons Homo-Szene Müde unter dem Regenbogen

Peter ist müde. Carl ist tired. Liz ist erschöpft. Roberta ist exhausted. Alle sind ziemlich fertig. “Ich habe seit dem 11. September keine Nacht mehr richtig geschlafen”, sagt Jerry, “ich wache im Morgengrauen auf und bin k.o.” Kim dagegen könnte nur noch schlafen, Tag und Nacht. Sie ist nie richtig wach. “Mir fehlen zwei Monate”, sagt Steven, “vom 11. September bis Mitte November hab ich kaum etwas gemacht, ich war wie gelähmt.”

Washington: Badesalz für die Szene (Foto: Henryk M. Broder)

Jeremiah sitzt mit seinem Laptop im Café Xando, hat sich ins Internet eingewählt und recherchiert für einen Vortrag. Er hat noch nie gerne daheim gearbeitet, seit dem 11. September geht er nur noch zum Schlafen in seine Wohnung. Gegenüber, bei Starbucks, sind die vier besten Ohrensessel am Fenster seit Stunden von denselben Gästen besetzt. Zwei Männer lesen Bücher, einer schreibt auf seinem Laptop, eine Bag-Lady hat den Einkaufswagen mit ihren Tüten vor dem Eingang geparkt und passt auf, dass er nicht abhanden kommt.

Unglück macht die Menschen menschlicher

“Vor ein paar Wochen hätte man sie da nicht reingelassen oder gleich rausgeschmissen”, sagt Frank, “heute kommt es nicht mehr so darauf an, wie einer aussieht oder was er an hat.” Unglück macht die Menschen menschlicher. Aber auch träger. Wer früher wissen wollte, was in Washington los ist, der musste sich nur an das schwarze Brett bei “Kramerbooks” stellen und die Flugblätter lesen.

Kerzen für besinnliche Stunden? (Foto: Henryk M. Broder)

Das schwarze Brett gibt es noch, die Flugblätter auch, aber es passiert nicht viel. Eine lesbische Selbsthilfegruppe gibt ihre Termine bekannt, ein paar Studenten suchen “room mates” oder bieten Mitfahrgelegenheiten an.

Keine Lesungen, keine Demos, keine Partys. Dafür hat der Mann an der Kasse Zeit für einen Schwatz. Ich will wissen, ob es schon Bücher gäbe, die sich mit dem 11. September beschäftigen würden, vielleicht Lyrikbände oder Ratgeber für Eltern, wie sie ihren Kindern die Katastrophe erklären sollten. “Ich hab noch nichts von der Art gesehen”, sagt der Mann, “es ist noch zu früh.” Neben der Kasse liegen allerlei Geschenkbücher wie das “Male-Female-Dictionary” oder “Scheisse!” von Gertrude Besserwisser: “The Real German You Were Never Taught in School”. Am besten würden sich derzeit Romane von V.S. Naipaul und Comics von Charles M. Schulz verkaufen, sagt der Mann an der Kasse; aber das hätte mit dem 11. September garantiert nichts zu tun.

Einen Block weiter gibt es den “Lambda Rising Bookstore”, einen Buchladen für Lesben und Schwule. Eigentlich ist es eher ein Supermarkt, denn neben Büchern, Platten und Zeitschriften wird so gut wie alles angeboten, was in einem schwullesbischen Haushalt gebraucht wird. Sticker (“Gay USA”), Türmatten, Handtücher und Bademäntel in Regenbogenfarben, Teddybären in Regenbogenpullovern, Regenbogenfahnen in allen Größen, Weihnachtsschmuck und Kerzen im Regenbogendesign. Mir persönlich gefällt eine Kachel am besten, die man als Untersetzer für Kaffeekannen benutzen oder an die Wand hängen kann: natürlich in den Regenbogenfarben mit einem Davidstern obendrauf, das ideale Geschenk für einen schwulen jüdischen Freund zu Chanukka.

Keine Silvesterbälle

Ein Bademantel in Regenbogenfarben (Foto: Henryk M. Broder)

Eric, der Geschäftsführer, ist stolz auf das Sortiment. “Wir sind der größte Laden dieser Art in ganz USA.” Nicht einmal in San Francisco gäbe es etwas Vergleichbares. Letztes Jahr um die gleiche Zeit habe man noch Benefiz-Veranstaltungen zu Gunsten der Aids-Hilfe organisiert und Bälle zu Silvester geplant. Dieses Jahr “bleiben die Leute lieber zu Hause”, die letzten Wochen “waren einfach zu anstrengend”. Dennoch ist Eric mit dem Geschäft zufrieden: “Die Leute kaufen mehr ein, statt Geld für Partys auszugeben.” Ich kaufe mir einen Magneten für den Kühlschrank: “Even My Dog Is Gay”. Jetzt brauche ich nur noch einen Hund, der Englisch versteht.

20.1.2002

Permanenter Link

Uncategorized