Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena
20.01.2002 12:06 +Feedback
Nation im Alarm-Zustand USA-Tagebuch Winter 2001/02
Ich muss mich korrigieren. Es gibt doch eine Friedensbewegung in den USA, man findet sie nur nicht an jeder Ecke wie Kentucky Fried Chicken oder Taco Bell. Man muss schon ein wenig übers Land rollen, die Augen aufhalten und auf den Zufall hoffen.
Etwa 60 Meilen östlich von Washington liegt eine Kleinstadt wie aus einem Film, der in einer amerikanischen Kleinstadt spielt. Man fährt auf der Route 50 über die Chesapeake Bay Bridge vorbei an Shopping Malls und Farmen und kommt nach etwa anderthalb Stunden in Easton/Maryland an, gegründet 1710 oder schon 1682, wenn man die Chronik der Stadt mit dem Bau des ersten Hauses anfängt. Heute hat die Stadt 11.000 Einwohner, 30 Kirchen, eine Polizeiwache, einen Golfplatz, ein Museum für die Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, ein Art-Deco-Theater aus dem Jahr 1921, ein Waffengeschäft, zwei Handvoll Cafés, Inns und Pizzerias. Auf der Liste der “100 Best Small Towns in America” rangiert Easton auf dem achten Platz.
Friedensanhänger: “Peace Pray” (Foto: Alex Gorski)
Und ausgerechnet in dieser Idylle soll die Friedensbewegung aktiv sein? Es sieht so aus. Es ist Sonntag, 15 Uhr, rund um dem rot-blau-weiß geschmückten Weihnachtsbaum am Thompson Park an der Ecke Dover und Washington Street haben sich etwa 70 Menschen zu einem “Peace Prayer” versammelt, organisiert von der Easton Church of the Brethren und den Quäkern, die hier Third Haven Friends Meeting heißen. Die Friendensfreunde lesen Psalme, singen Lieder (“Let There be Peace on Earth”), bilden einen Kreis und sprechen gemeinsam den Allmächtigen an: “Lass uns die Zeichen der Zeit erkennen und das Richtige für den Frieden tun.” Es sind Christen aller Richtungen dabei, dazu ein Jude und ein Muslim.
Wer etwas zu sagen hat, tritt vor und gibt ein “Peace Statement” ab. Leo Lash vom Tempel B’nai Brith, Hassan Rahin vom Muhammad Tempel, Barbara Hoag von den Unitarischen Universalisten. Als Letzte spricht Moonyene Jackson-Amis, Gründerin und Präsidentin der Kwanzaa-Foundation. Kwanzaa ist für schwarze Amerikaner das alternative Weihnachtsfest. Und Moonyene ist eine schwarze Amerikanerin, deren Vorfahren als Sklaven aus Afrika eingeschleppt wurden. 1947 in einer Kleinstadt in Virginia geboren, hat sie Jura studiert und als Anwältin gearbeitet, bevor sie beschloss, eine Aktivistin zu werden.
“Wenn Menschen abends hungrig schlafen gehen, ist das Terror”
Moonyene Jackson-Amis hat mehrere Leben gelebt (Foto: Alex Gorski)
Wie viele Amerikaner hat auch sie einige Leben gelebt. Im Mai 2001 wurde sie in den fünfköpfigen “Town Council” von Easton gewählt, als erste schwarze Frau in der Geschichte der Stadt. Der Job ist ehrenamtlich, sie arbeitet als Sprachtherapeutin mit Kindern und als “Geschichtenerzählerin” für Erwachsene. Moonyenes großes Vorbild ist Harriet Tubman, 1820 geboren, 1913 gestorben, eine schwarze Sklavin, die sich selbst befreit und gegen die Sklaverei gekämpft hat.
“Ich will euch etwas über Terror sagen”, ruft Moonyene Jackson-Amis in die kleine Menge unter dem Weihnachtsbaum, “wenn Menschen abends hungrig schlafen gehen, dann ist das Terror. Und wenn sie morgens hungrig aufwachen, dann ist das Terror. Und wenn sie wegen ihrer Hautfarbe auf der Straße angehalten werden, dann ist das auch Terror.” Sie kenne eine Frau, der das Wasser abgestellt wurde, weil sie die Rechnung nicht bezahlen konnte. “Auch das ist Terror.”
Dann fassen sich die Friedensfreunde wieder an den Händen und sprechen ein “Gebet der Hoffnung und Erlösung”. Irgendwie kommt mir das alles bekannt vor, aber es ist doch anders als die Spaß-Demos für den Frieden, die ich in Berlin erlebt habe. “Schmerz ist Schmerz, Angst ist Angst und Not ist Not”, sagt Moonyene nach der Kundgebung, die eine knappe Stunde gedauert hat, “wir hoffen sehr, dass sie Osama Bin Laden und seine Leute kriegen, wir wollen nur klar sagen: Es reicht nicht, eine Armee in die Welt zu schicken, um gegen das große Böse zu kämpfen, man muss sich auch um das kleine Böse in den eigenen vier Wänden kümmern, um den Terror im täglichen Leben”.
Easton: Wer etwas zu sagen hat, gibt ein Statement ab (Foto: Alex Gorski)
Sogar in Easton, sagt Moonyene, gäbe es Menschen, die nicht genug zu essen hätten und die nicht wüssten, wovon sie ihr Heizöl bezahlen sollen. “Für die liegt Afghanistan auf dem Mond.” Dann eilt sie davon, denn das “Kwanzaa-Festival” steht vor der Tür, das Weihnachten der Afro-Amerikaner, und sie muss noch alles vorbereiten, damit es ein wirklich schönes Fest wird.
Wir gehen ins Tidewater Inn, setzen uns in die Lobby und staunen. Waren wir eben im Kino oder haben wir wirklich die amerikanische Friedensbewegung erlebt, an einem sonnig-kalten Sonntag im Dezember, in Easton/Maryland, der achtschönsten kleinen Stadt der USA?
20.1.2002
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