Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

20.01.2002   12:06   +Feedback

USA-Tagebuch

Nation im Alarm-Zustand USA-Tagebuch Winter 2001/02

Lesen lernen, Päckchen packen

Wir wissen alle, wie die Amerikaner sind: Naiv, sentimental und von sich selbst begeistert. Sie glauben, ein Kinderspiel namens Baseball wäre echter Sport, ein Hot Dog eine gesunde Delikatesse und eine Klimaanlage Ersatz für gutes Wetter. Bei Autorennen fahren sie so lange im Kreis herum, bis der Erste den Letzten überholt hat, und wenn sie im Restaurant ihr Essen nicht aufgegessen haben, nehmen sie den Rest in einer Doggy Bag mit nach Hause, um die Tüte samt Inhalt am nächsten Tag wegzuwerfen. Was uns am meisten irritiert: Egal, wer sie sind und was sie machen, sie sind stolz darauf, Amerikaner zu sein. Vor ein paar Tagen sah ich einen Penner, der auf einer Parkbank am Dupont Circle eingeschlafen war. Er trug ein T-Shirt mit dem Aufdruck: “Proud to be an American!“

In fast jedem “Barnes & Nobles”-Laden gibt es ein Café (Foto: Alex Gorski)

Das sind auch Auch Liz und Molly, beide Mitte 30, verheiratet und berufsttätig. Liz arbeitet als “Consultant“ in einer großen Beratungsfirma, Molly ist Diplomatin im Auswärtigen Dienst, Anfang des kommenden Jahres wird sie nach Manilla versetzt, um an der dortigen US-Botschaft die Kulturabteilung zu übernehmen. An den Wochenenden vor Weihnachten stehen Liz und Molly hinter einem Tisch bei “Barnes & Nobles“ in Georgetown. Vor ihnen steht eine Plexiglasbox mit dem Aufdruck “Donations“, gut gefüllt mit Münzen und Dollarnoten. Wer bei “Barnes & Nobles“ ein Buch kauft und es verschenken möchte, kann es gegen eine Spende von Liz und Molly in buntes Geschenkpapier einpacken lassen. Das Papier wurde von der Buchhandlung gestiftet, es gibt drei Sorten zur Auswahl - neutrales Rot, Weihnachtsbaum oder Chanukkaleuchter.

Liz und Molly sind das, was man in Amerika “Volunteers“ nennt, Freiwillige. “Volunteers“ findet man überall, als Helfer in Museen und Bibliotheken, als Wegweiser an historischen Orten. Meistens sind es ältere Menschen. Statt allein zu Hause zu sitzen oder ihre Familien zu nerven, leisten sie “gesellschaftliche Arbeit“, natürlich ohne Bezahlung. Ohne die Freiwilligen würde vieles nicht laufen oder viel mehr kosten.

An der Wirkungsstätte von Liz und Molly (Foto: Alex Gorski)

Liz und Molly arbeiten für die “Literacy Volunteers of America“, eine gemeinnützige Organisation, die sich um Menschen kümmert, die “illiterate“ sind, also weder Lesen noch Schreiben können. “Es sind nicht unbedingt Analphabeten“, sagt Tracey Carman vom Hauptquartier der LVA in Syracuse/N.Y., es könnten auch Einwanderer sein, die Spanisch oder Chinesisch sprechen, aber mit Englisch nicht zurecht kommen.

“Etwa 37 Prozent der Einwohner von Washington sind nicht in der Lage, eine Bewerbung für einen Job auzufüllen oder eine Gebrauchsanweisung auf einer Aspirin-Packung zu lesen“, in ganz USA wären es etwas mehr als 20 Prozent der Bevölkerung. Knapp die Hälfte dieser “funktionalen Analphabeten“ lebt zudem unterhalb der Armutsgrenze. “Wer nicht lesen und nicht schreiben kann, bekommt meistens auch keine ordentliche Arbeit.“

“Barnes & Nobles” in Georgetown (Foto: Alex Gorski)

50.000 Aktivisten in 350 “Literacy“-Gruppen quer durch die USA betreuen 70.000 Erwachsene, bringen ihnen - “one to one“ - bei, wie man Englisch liest und schreibt. In der Zentrale in Syracuse/N.Y. arbeiten zehn Kräfte, es sind die einzigen, die bezahlt werden. Alle Ausgaben - für Gehälter, Bürokosten und Unterrichtsmaterial - müssen als Spenden eingesammelt werden. Und deswegen sitzen Liz und Molly an den Wochenenden vor Weihnachten bei “Barnes & Nobles“, packen Bücher in buntes Papier ein und freuen sich über die “Donations“. Zwei Freiwillige, die wissen, was sie tun. “Wir könnten uns auch bei Wal-Mart hinstellen und Tüten packen“, sagt Liz, “aber in einem Buchladen macht so etwas mehr Sinn“.

Allein schon wegen der Nähe zu Büchern. Und weil der Gigant “Barnes & Nobles“ mit seinen 582 Läden in ganz USA eine neue Lesekultur eingeführt hat. In fast jedem Laden gibt es ein Café, in dem man sitzen und lesen kann, so lange man will und so viele Bücher und Zeitschriften man aus dem Laden in das Cafe tragen kann. Es gibt kein Limit. Zwischendurch kommt ein Mitarbeiter mit einem Wägelchen vorbei und sammelt die Bücher und Magazine wieder ein. Auf großen Tischen liegen die Neuerscheinungen, in den Regalen findet man auch ausgefallene Titel. Und überall stehen bequeme Polstersessel herum und laden, vor allem im Sommer, zu einem Mittagsschlaf ein.

Liz und Molly nehmen pro Schicht rund 100 Dollar ein. “Jeder Schein zählt“, sagt Molly, in anderen “Barnes&Nobles“-Filialen wird auch gepackt und gesammelt, und so kommen ein paar tausend Dollar für die “Literacy Volunteers of America“ zusammen. “It’s fun“, sagt Liz, “we love it“. So sind sie eben, die Amerikaner: naiv, sentimental und von sich selbst begeistert. Und manchmal haben sie sogar einen Grund, stolz zu sein.

20.1.2002

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