Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena
20.01.2002 12:06 +Feedback
Nation im Alarm-Zustand USA-Tagebuch Winter 2001/02
Eigentlich finde ich Katastrophentourismus ziemlich ekelhaft. Aber wenn ich schon mal in New York bin, dann will ich auch zum Ground Zero. Also fahren wir mit der Green Line bis zur Canal Street, gehen ein paar Blocks zu Fuß und machen erst mal Pause im Sun Hop Shing Tea House in der Mott Street. Dort, sagt Stephan, werden Dim Sum wie im alten China serviert.
Es reicht, dass uns der Wind eisig um die Ohren weht, warum sollen wir auch noch hungrig durch die Kälte laufen.
Eine Stunde später und ordentlich abgefüllt, machen wir uns wieder auf den Weg, vorbei an der neuen und der alten City Hall, die gerade für die Amtseinführung des neuen Bürgermeisters Michael Bloomberg geschmückt wird. “Gleich sind wir da”, sagt Stephan, der schon ein paar Mal Gäste zum Ground Zero geführt hat.
Man kann nicht viel sehen. Man sieht nur, dass die Türme nicht mehr da sind. Aber man hört den Krach, den die Bagger und Lastwagen an der Katastrophenstelle machen.
(Fotos: Alex Gorski / Henryk M. Broder)
Der Zaun um die St. Paul Chapel ist vollgepackt mit Blumen, Briefen, Fotos, T-Shirts, Spielzeug und anderen Erinnerungsstücken, eine Art Schrein oder Klagemauer. Davor drängeln sich die Menschen, nur um zu sehen, was andere aufgehängt oder hingelegt haben. Bin ich gerührt? Ich weiß es nicht. Im Fernsehen waren die Bilder eindrucksvoller, als sie in der Wirklichkeit sind.
Zwischen den Grabsteinen auf dem kleinen Friedhof der Kapelle sieht man die langen Arme der Bagger, aus der Entfernung erscheinen sie wie Spielzeuge. An der Ecke Broadway und Fulton verkaufen ambulante Händler Wollmützen mit den Emblemen der Polizei und der Feuerwehr. Ein Lingerie-Geschäft, das eine Weile geschlossen war, hat wieder aufgemacht und bietet heiße Dessous zum halben Preis an. Bei McDonald’s gegenüber kann man aufs Klo, ohne vorher etwas bestellen zu müssen, und bei Al’s Big Pizza Chicago Style um die Ecke stehen die Gäste schon an der Tür Schlange.
Auch die Pussycat Lounge, zwei Blocks weiter südlich, hat wieder aufgemacht, ebenso wie Joe’s Gourmet Laden. Die Rückkehr zur Normalität wird von einer gesunden Banalität bestimmt. Bei Macey’s gibt es Weihnachtskugeln in Herzform und Stars-and-Stripes-Muster zu 34 Dollar das Stück, plus Verkaufssteuer. Das macht 80 Mark. Zu viel, finde ich, obwohl mir das Design gut gefällt für so ein zerbrechliches Ding, das die Reise nach Berlin nicht überleben würde.
In Köln bin ich immer, wenn der Rhein Hochwasser führte, auf die Deutzer Brücke gefahren, weil man von dort am besten sehen konnte, wie die Altstadt in den Fluten versank. In Berlin bin ich am Potsdamer Platz auf einen Turm geklettert, um einen Blick nach drüben zu werfen.
Jetzt laufe ich um Ground Zero herum und versuche, so nah wie möglich ranzukommen. In den nächsten Tagen sollen Rampen für Besucher eröffnet werden, die einen freien Blick über das Gelände und den Gang der Arbeiten bieten. Für Katastrophentouristen wie mich und alle anderen auch.
20.1.2002
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