Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

20.01.2002   12:06   +Feedback

USA-Tagebuch

Nation im Alarm-Zustand USA-Tagebuch Winter 2001/02

An Neujahr geht der Rabbi baden

Der Himmel über Brighton Beach ist knallblau, die Sonne scheint und es weht ein eisiger Wind. Das ideale Wetter, um das neue Jahr mit einem alten Brauch zu beginnen. Die Mitglieder des Polar Bear Club gehen, wie jedes Jahr am 1. Januar, im Meer baden, wer es länger als drei Minuten im Wasser aushält, bekommt eine Urkunde.

“Ich bin seit mehr als 30 Jahren dabei!”, ruft ein weißhaariger Mann, der älteste unter den aktiven Polarbären. Zu einer roten Badehose trägt er weiße Turnschuhe, weiße Socken und ein weites Unterhemd, auf dem Kopf eine seidene Kipa und um den Hals eine kurze Kette mit einem dicken Davidstern. Rabbi Abraham Abraham aus Brooklyn. Wahrscheinlich ist er kein richtiger Rabbi ist, sondern der fünfte der vier Musketiere, aber alle hier nennen ihn nur “The Rabbi”. Und wenn einer Abraham mit Vornamen und Abraham mit Nachnamen heißt, dann hat er in jedem Fall bei dem Allmächtigen einen dicken Stein im Brett.

Klicken Sie auf ein Bild zum Vergrößern(Fotos: Alex Gorski / Henryk M. Broder)

“Das neue Jahr fängt gut an!” schreit er in die Runde und legt sich die amerikanische Fahne wie einen Gebetsschal um die Schultern. “Wir sind glücklich, dass wir Amerikaner sind, New Yorker und Brooklyner!” Montag, am letzten Tag des alten Jahres, habe er einen Rekord aufgestellt, der ihm ganz gewiss einen Eintrag in das Guinness-Buch der Rekorde bringen wird. “Ich habe zwei Tage in einem Iglu gesessen”, nur mit einer Badehose und einem Unterhemd an, und wenn es ihm mal kalt wurde, dann habe er gebetet.

Nachdem die Polarbären abgezogen sind, steht Rabbi Abraham Abraham noch immer am Strand von Brighton Beach, die US-Fahne über den Arm gelegt, und gibt Interviews. Am Abend wird er in den Zehn-Uhr-Nachrichten im Fernsehen zu sehen sein. Ein stolzer Amerikaner, New Yorker und Brooklyner.

Von der Promenade am East River in Brooklyn hat man den besten Blick auf Manhattan. Man sieht auch, was nicht da ist. Am Zaun hängt eine Kinderzeichnung mit den beiden Türmen des WTC. Daneben ein Kranz “Zur Erinnerung an unseren Nachbarn Mathew Leonard”. Auf einer Tafel steht: “Ihr seid verloren, aber nicht vergessen.” Der Himmel ist knallblau und die Sonne scheint. Wie am 11. September.

20.1.2002

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