Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

11.11.2002   12:05   +Feedback

Leons Geheimnis

L A U D A T I O

Eine Laudatio auf Leon de Winter, dem am 8.11. der Literaturpreis der WELT verliehen wurde

Leon de Winter
Leon de Winter

Ich mache so etwas zum ersten Mal, ich habe noch nie eine Laudatio gehalten und weiß nicht, wie man so etwas macht. Ich bin ein wenig unsicher, obwohl ich mich gut vorbereitet habe. Ich habe alles von und über Leon de Winter gelesen und ich habe mir vor ein paar Wochen sogar die Übertragung des Deutschen Fernsehpreises angesehen, wo auf jeden Preisträger und jede Preisträgerin eine Laudatio gehalten wurde. Da ging es um die beste Hauptrolle, die beste Nebenrolle, das schönste Lächeln, die beste Serie, die beste Moderation - so lange, bis sogar die Richterin Barbara Salesch für ihre tägliche Trivialisierung der Justiz zur Klamotte einen Preis bekommen hatte. so macht man das also, dachte ich, loben, loben, loben und möglichst oft aufregend, faszinierend, überzeugend, meisterhaft, glaubwürdig sagen. Die gleichen Adjektive kommen übrigens auch in der Literaturkritik immer wieder vor.

Was sollte ich also hier und heute über Leon de Winter sagen, ohne abgenutzte Klischees zu wiederholen, deren Aussagewert gegen null tendiert? Vielleicht dies: Leon de Winter ist mein Lieblingsdichter, ich bin süchtig nach seinen Büchern und ich habe schon daran gedacht, Holländisch zu lernen, nur um seine Romane erstens im Original und zweitens gleich nach ihrem Erscheinen lesen zu können. Aber angesichts der Qualität der Übersetzungen von Hanni Ehlers scheute ich den Aufwand an Mühe und Zeit. Inzwischen überlege ich, ob ich eine Selbsthilfegruppe gründen soll: Leon-de-Winter-Addicts Anonymous. Wir würden regelmäßig zusammen kommen und uns Leon-de-Winter-Texte vorlesen, um die schrecklich langen Phasen zwischen dem Erscheinen seiner Bücher zu überbrücken.

Ich weiß, vom Standpunkt eines Literaturkritikers reicht es nicht zu sagen: Er ist mein Lieblingsdichter. Ein Literaturkritiker würde seine Meinung irgendwie begründen, oder wenigstens so tun, als wäre er dazu in der Lage. Da ich aber kein Literaturkritiker, sondern nur ein Leser bin, nehme ich mir die Freiheit, nach zwei sehr einfachen Kriterien vorzugehen: gefällt mir, gefällt mir nicht. Eine bessere Methode, Spreu vom Weizen zu trennen, kenne ich nicht.

Es gibt, gelobt sei der Herr, auch eine Gerechtigkeit

Natürlich wird der Markt von anderen Regeln bestimmt. Die morbiden Mordphantasien des Grantlers vom Bodensee wurden mit 1oo.ooo Exemplaren aufgelegt. Das erfolgreichste Buch dieser Herbstsaison, das vom Leben und Leiden eines Gitarre spielenden Schwellkörpers erzählt, war, kaum erschienen, schon 4oo.ooo Mal verkauft. Das hat nicht einmal Harry Potter geschafft. Ich finde es tröstlich, dass Dieter Bohlen als Schriftsteller Martin Walser überrunden konnte, es bleibt aber ein unguter Beigeschmack, wie auf der Börse, wo Zocker und Spekulanten den Ton angeben.

Denn auch im Literaturbetrieb wird gezockt und spekuliert, es gibt Hypes, Gewinnmitnahmen und manipulierte Kurse. Aber es gibt, gelobt sei der Herr, auch eine Gerechtigkeit, die sich über den Markt regelt. Solide Hersteller bieten über Jahre Ware in gleich bleibender Qualität an und werden dafür von ihren Lesern belohnt. Wie John Irving, David Lodge und - Leon de Winter.

Mit 12 schreibt er seine ersten Kurzgeschichten, mit 24 veröffentlicht er seinen ersten Roman, inzwischen sind es, wenn ich richtig gezählt habe, zehn Romane, die in ein Dutzend Sprachen übersetzt wurden, fünf Bände mit Erzählungen, ein halbes Dutzend Filmdrehbücher, die Essays, Reportagen und Kritiken nicht mitgerechnet. Keine schlechte Bilanz für den Sohn eines Altmaterialhändlers, der Bücher vor allem nach Gewicht beurteilte. Leon de Winter hat es geschafft, ohne Marketing und Promotion, ohne Affären und Skandale, ohne Bild, Bunte, Gala und RTL, in einer zeit, da jeder zweite Seriendarsteller den Schriftsteller in sich entdeckt und sogar Michael Degen und Eva Herman Romane vorlegen, nach deren Lektüre man den Autoren eine Rechnung für gestohlene Lebenszeit schicken möchte.

Gute und bessere Bücher

Bei den meisten Schriftstellern, die mehr als ein Buch geschrieben haben, wird zwischen guten und weniger guten Arbeiten unterschieden. Bei Leon de Winter kann man mit ruhigem Gewissen von guten und noch besseren Büchern sprechen. Kritiker halten “Hoffmanns Hunger” für sein Meisterwerk, die Geschichte eines fresssüchtigen holländischen Diplomaten, der zur Wendezeit in Prag lebt, sich in eine Agentin verliebt, nächtens den Eisschrank ausräumt und dabei mit Spinoza redet. Mein Lieblings-de-Winter ist allerdings “Zionoco”, ein Abenteuerroman, wie ihn Mark Twain geschrieben hätte, wenn er heute leben würde.

Es geht um Sol Mayer, den Julio Iglesias des progressiven Judentums, einen angesehenen New Yorker Reformrabbiner, der zufällig eine junge und attraktive Sängerin kennen lernt und ihretwegen seinen Ruf, seine Karriere und seine Familie aufs Spiel setzt. Es geht um den ewigen Konflikt zwischen Liberalen und orthodoxen Juden, um Sex und Ehebruch, denn auch Rabbiner sind nicht nur Menschen, sie sind auch Männer. Auf der Flucht vor seiner Gemeinde und vor sich selbst landet Sol Mayer in Paramaribo in Surinam, wo es eine kleine jüdische Gemeinde gibt, die er betreuen soll. Eines Tages bricht Sol Mayer in den Urwald auf und fällt einem Indianerstamm in die Hände. In seiner Angst ruft er: “Schma israel, adonai elohenu, adonai echad”, das Todesgebet der Juden. Worauf der Häuptling der Indianer antwortet: “Du bist a Jid? Warum hast du das nicht früher gesagt?” denn die Indianer, die Sol Mayer für die letzten Kannibalen hält, sind zum Judentum konvertierte Ureinwohner, die untereinander jiddisch sprechen und die Gebote der Thora befolgen: “Wir sind das Volk des Gesetzes. Wir sind die Auserwählten.” Mitten im Dschungel von Surinam. Sogar am Ende der Welt muss man damit rechnen, Juden zu treffen.

Schriftsteller, die ernst genommen werden wollen, lächeln nicht

Wie kommt Leon de Winter auf einen solchen Plot? Wie schafft er es, den Bogen zu spannen von der Fifth Avenue in Manhattan in ein Indianerdorf in Südamerika? Und dabei eine wilde, eine verrückte, aber in sich eine vollkommen schlüssige Geschichte zu erzählen, die es im Leben genauso wie in der Literatur geben könnte.

Der Mann hat ein Geheimnis. Er schreibt gerne.

“Ich möchte einfache Geschichten erzählen”, sagt Leon de Winter, “mit einem Anfang, einem Mittelstück und einem Ende… Wenn ich anfange zu schreiben, ist das lustig und erfreulich für mich, so wie man eine schöne Mahlzeit zubereitet und beim Kochen schon lächelt”. Er sei ein “Unterhaltungsautor”, dessen Arbeit der “eines Soziologen oder Archäologen” gleiche. Leon de Winter kennt keinen Horror Vacui, unbeschriebenes Papier ist dazu da, mit Texten gefüllt zu werden.

Damit macht er sich verdächtig. Denn Schriftsteller, die ernst genommen werden wollen, lächeln nicht, weder beim Kochen noch beim Dichten. Lieber klagen sie darüber, wie anstrengend das Schreiben ist. In der Tat: sie schreiben so, wie Busfahrer ihre Busse durch den Berufsverkehr lenken, mit viel Mühe, immer am Rand des Zusammenbruchs. Und wenn sie dann an der Endhaltestelle angekommen sind, packt sie das Grausen, denn sie müssen wieder zurück. Leon de Winter dagegen sitzt in seinem alten Jaguar wie in einer Hollywoodschaukel und düst über den Santa Monica Boulevard in Richtung Venice, die Fenster geöffnet, raucht eine Zigarre und arbeitet in Gedanken an einer Geschichte, die “der Kaufmann von Venedig” heißen soll.

“Ich versuche immer mehr, klare, einfache, spannende und unterhaltsame Geschichten zu erzählen. Das haben früher die Dorfgeschichtenerzähler gemacht. In anderen Zeiten hätte ich versucht, meine Geschichten auf Marktplätzen weiterzugeben.”

Ohne trotzigen Stolz oder falsche Scham

So wie Leon de Winters Vorfahre, Abraham de Winter, der Mitte des 19. Jahrhunderts lebte. Er trat in Kneipen und auf Marktplätzen auf und erzählte Geschichten. Im niederländischen Theaterinstitut in Amsterdam wird eine Wachsrolle aufbewahrt, auf der Abraham de Winter mit einem Witz zu hören ist. Es ist die älteste erhalten gebliebene Aufnahme einer Stimme in Holland.

Kann man eine solche Begabung erben? Vermutlich ja. Man muss nur bereit sein, das Geschenk anzunehmen. Leon de Winters Vater, Moses, hatte vor dem Krieg einen Marktstand, verkaufte Obst und Gemüse und unterhielt seine Kunden dabei mit Geschichten. Es sei verbürgt, sagt Leon de Winter, dass sein Vater nach einer Herzattacke mit einem Witz auf den Lippen starb, in einer Ambulanz auf dem Weg ins Krankenhaus, grade 52 Jahre alt.

Es sind nicht immer die selbst gemachten Erfahrungen, die das eigene Leben bestimmen. Niemand kann etwas für die Küche, aus der er kommt, aber keiner kann sich dem Dunst entziehen. Und nur wenige schaffen es, zurückzuschauen, ohne zu schwindeln oder vor Schrecken ohnmächtig zu werden. Leon de Winter tut es, schreibend und erzählend. Ohne trotzigen Stolz oder falsche Scham. Seine Großeltern väterlicherseits seien Lumpensammler gewesen, auch der Vater fuhr mit dem Handkarren herum auf der Suche nach alten Kleidern und dergleichen. Der Großvater mütterlicherseits war “der offizielle Arme der jüdischen Gemeinde”, ein Almosenempfänger. Die Eltern seiner Mutter waren gegen den Umgang mit seinem Vater, denn der war noch ärmer. Doch dann kamen die Nazis und die sozialen Unterschiede zwischen arm und ärmer zählten nicht mehr. Die Großeltern wurden deportiert, die Eltern überlebten im Untergrund, versteckt und beschützt von sehr katholischen Priestern und Nonnen.

Es ist eine Geschichte, die Leon de Winter hätte erfinden können, wenn sie nicht wahr wäre. Zwei Juden vor den Nazis zu verstecken, war für Katholiken, die ihren Glauben ernst nahmen, eine moralische Pflicht. Die beiden Juden aber in Sünde miteinander leben zu lassen, in wilder Ehe ohne Gottes Segen, das ging zu weit. Also wurden Vater Moos und Mutter Anneke im Versteck miteinander getraut, nach katholischem Ritus. Nach dem Krieg sind sie zu einem Rabbiner gegangen und haben noch einmal geheiratet, diesmal jüdisch, wie es sich gehört.

Der Rohstoff, aus dem gute Geschichten gemacht werden

Leon de Winter hat diese Geschichte vor drei Jahren Volker Hage und mir erzählt, in seinem schönen großen Haus in Bloemendal bei Amsterdam, wo wir ihn besuchten. Ich bin mit unglaublichen Geschichten von Überlebenden aufgewachsen, aber eine solche Geschichte hatte ich noch nie gehört. Juden wie Katholiken können, wenn es darauf ankommt, sehr praktisch und pragmatisch sein. Gebote und Verbote sind nicht unbedingt dazu da, eingehalten sondern auf eine schlaue Weise umgangen zu werden. Die Religion mag ein Haus voller Dogmen sein, das Leben ist eine Hütte voller Kompromisse.

Auch nachdem sich das Leben wieder normalisiert hatte, blieb Vater de Winter ein praktizierender Pragmatiker. Er machte mit Altmetallhandel ein Vermögen und spendierte armen Katholiken jedes Jahr eine Reise nach Lourdes. Es war seine Art, sich zu bedanken, obwohl er natürlich weder an Bernadette noch an andere Heilige glaubte.

Das, denke ich, ist der Rohstoff, aus dem gute Geschichten gemacht werden. Sie müssen so sein, dass man sich erst einmal weigert, sie zu glauben. Nur dann sind sie nah an der Wirklichkeit. Und dann dreht sich alles darum, sagt Leon de Winter, “dem Leiden im Leben einen Platz zu geben”. Und in dieser Disziplin sind Juden wirklich Weltmeister. Dem Leiden im Leben einen Platz zu geben, ist eine jüdische Spezialität. Wenn schon das Leiden nicht abgeschafft werden kann, muss es wenigstens mit Sinn erfüllt werden.

Eine Achterbahn, auf der die Klischees um die Wette rasen

Womit wir bei der jüdischen Identität wären, einem Begriff, dem ich mit größter Skepsis begegne. Es ist eine Achterbahn, auf der die Klischees um die Wette rasen. Mal liegt die jüdische Intelligenz in Führung, mal die jüdische Wurzellosigkeit, abhängig vom Wetter oder dem Stand des Aktienindex. Überhaupt, finde ich, gehört der Begriff “Identität” verboten, zusammen mit den Begriffen Betroffenheit, Nachhaltigkeit und Kontextualität. Schon vor über 3o Jahren hat sich Wolfgang Neuss über die verschiedenen Formen der Identitätssuche mit dem Satz lustig gemacht: “Das ist die Transzendenz der Krise, mal hab ich sie, mal ham sie se!” Diese Einsicht, genial einfach und einfach genial, gilt noch immer.

Eine Identität zu haben, scheint das seltsame Privileg von Opfern zu sein. Niemand hat jemals im Zusammenhang mit Leni Riefenstahl von christlicher Identität gesprochen, aber alle reden von jüdischer Identität wenn es um Primo Levi, Paul Celan und Imre Kertesz geht. Leiden adelt und veredelt und macht aus normalen Menschen Wesen mit einer Identität.

Zentrales Element der jüdischen Identität ist, so heißt es immer wieder, der Ahasver, der Wurzel- und Heimatlose, ewig umherwandernde Jude. Was früher ein antisemitisches Klischee war, ist heute ein intellektuelles Gütesiegel, das TÜV-Zeichen für Mobilität und Flexibilität, also sehr moderne Tugenden. Wurden die Juden früher für ihre Wurzellosigkeit verachtet, werden sie heute darum beneidet. Weltbürger zu sein, ist schick. Nur die Israelis schwimmen gegen den Strom der Zeit, sie klammern sich wie verrückt an ein Stück Land, statt loszulassen und sich wieder auf den Weg durch die Geschichte zu machen.

Die Wurzellosigkeit als Kapital und Tugend ist eine Chimäre. Es gibt keinen Juden, der nicht gerne verwurzelt sein möchte, egal wo und wodurch. Und wenn er eines Tages entdeckt, dass sein Vater Schützenkönig in einem rheinischen Dorf war, atmet er tief durch und hört mit der quälenden Suche nach seinen Wurzeln auf.

Ein jüdischer Blick auf die Welt

Wenn wir den Begriff “Identität” einmal weglassen, der den Juden abverlangt, das zu sein, was ihre Feinde oder Bewunderer in ihnen sehen möchten, wird die Lage überschaubarer. Es gibt einen jüdischen Blick auf die Welt, etwas, das man auf jiddisch den “Jiddischen Kop” nennt. Der ist mal liberal, mal reaktionär, mal autistisch und mal empathisch, mal will er hinaus in die Welt und mal zurück in das Ghetto. Er ist voller Widersprüche und lässt sich kaum auf einen Nenner bringen. Bis auf eine Kleinigkeit: der “jiddische Kop” stellt Fragen. Eine gute Frage ist viel mehr Wert als eine richtige Antwort. Fragen zu stellen, ist eine jüdische Spezialität. Es klingt ein wenig anmaßend, aber es stimmt: die jüdische Kultur ist eine Dauerübung im Fragenstellen. Die Frage aller Fragen lautet: Ist es gut für die Juden oder ist es schlecht für die Juden? Damit kann alles gemeint sein, von der Änderung der Bahnpreise im Nahverkehr bis zum Abschmelzen der Polkappen. Es ist eine Praxis, mit der bei Juden früh begonnen wird. Beim Sederabend, bei dem sich alles um den Auszug aus Ägypten dreht, als habe der letzte Woche stattgefunden, darf der jüngste am Tisch die zentrale Frage stellen: Was unterscheidet diese Nacht von anderen Nächten?

Glauben sie mir bitte, es ist eine prägende Erfahrung, die man nicht vergisst. Die stolzen Eltern, die das Kind hochhalten, damit es seine Frage quer über den Tisch brüllen kann, die neidischen Blicke der anderen Kinder, das Gefühl, ernst genommen zu werden. Wahrscheinlich hat auch Leon de Winter als Kind beim Sederabend die Frage stellen dürfen, was diese Nacht von anderen Nächten unterscheidet. Seitdem hat er mit dem Fragen nicht aufgehört. Was aber unterscheidet diesen Dichter von anderen Dichtern, die auch Fragen stellen - nach dem Sinn des Lebens, nach dem Woher, dem Wohin und dem Warum?

Ein Jude in einem Porsche

Leon de Winter stellt keine rhetorischen Fragen. Seine fragen sind konkret und handfest und zielen auf den Kern der Sache. In “Supertex” lässt er Max Breslauer fragen: “Ein Jude in einem Porsche, geht das?” Breslauer fährt zwar einen Porsche, hat aber deswegen ein schlechtes Gewissen, vor allem seit er ein Kind angefahren hat.

Die Frage klingt naiv, ist aber von existenzieller Bedeutung. Darf ein Jude einen Porsche fahren? Er darf schon, niemand wird es ihm verbieten, aber wenn er es tut, dann bezahlt er dafür mit schlechtem Gewissen. Zu Recht, denn Porschefahren ist das, was Juden als “Gojim Naaches” bezeichnen, ein Spaß von und für Nichtjuden. Ein Jude fährt ein ordentliches Auto, am besten einen Kombi, mit viel Platz für die Kinder und notfalls auch die Schwiegermutter, aber kein Ding, in das nur zwei reinpassen.

In der so harmlos klingenden Frage - darf ein Jude einen Porsche fahren - steckt ein ganzes Wertesystem. Würde man die zehn Gebote fortschreiben, würde das 11. Gebot lauten: “Du sollst keinen Porsche fahren”, das 12. “Du sollst nicht Sushi essen”, das 13. “Du sollst nicht Bungee springen” usw.

Das ist es, was wir von Leon de Winter lernen können, das Judentum ist eine dynamische Gebrauchsanweisung fürs leben. Leon de Winter stellt nicht nur die richtigen Fragen, er schafft es auch, aufwändige Geschichten mit leichter Hand zu erzählen und dabei der Wirklichkeit um einen Absatz voraus zu sein.

“Ich schreibe gern an der Grenze zur Übertreibung”, sagt er, “weil ich die Figuren in der Wirklichkeit übertrieben erfahre”. Und: “Ich gehöre nicht in eine niederländische literarische Tradition. Zufällig schreibe ich in dieser Sprache, vielleicht hätte ich besser auf Jiddisch geschrieben, weil das mein natürlicher Hintergrund ist.”

Dass Antisemiten zwanghaft und immerzu mit Juden hadern, liegt in der Natur der Beziehung, so wie sich Vegetarier dauernd mit Fleischessern auseinander setzen. Warum aber beschäftigen sich Juden ständig mit sich selbst, statt zu sagen: Okay, es gibt Schlimmeres, lasst uns endlich normal werden und zur Tagesordnung übergehen!

Auch auf diese Frage hat Leon de Winter eine Antwort, und zwar eine sehr überzeugende: “Wenn ich ein Pferd wäre, würde ich über Pferde schreiben. Da ich ein Jude bin, schreibe ich über Juden.”

Einfacher, klarer, redlicher kann man es nicht sagen. Der Satz erinnert an Woody Allens Zweizeiler: “Ich bin jüdisch, kann es aber erklären.” Andererseits wäre es reizvoll, Leon de Winter als Lipizzaner zu erleben, als Erzähler in einem Roman über die spanische Hofreitschule. Wir ahnen, wie die Geschichte ausgehen würde: am Ende treten alle, die Reiter und die Pferde, zum Judentum über, Schalom allerseits.

“Seit ich über jüdische Menschen schreibe, habe ich auch das Gefühl, dass jetzt wirklich meine eigene Stimme hörbar wird.”

Mission accomplished, History completed

Leon de Winters anhaltende Obsession mit dem Judentum ist typisch für das säkulare Judentum. Orthodoxe Juden halten die Gebote ein, indem sie mehrmals am Tag beten, koscher essen und ihre ehelichen Pflichten erfüllen. Ansonsten machen sie sich nicht allzu viele Gedanken über ihr Judentum, denn für sie ist es etwas völlig Selbstverständliches, Alternativloses. Nur säkulare Juden grübeln ununterbrochen darüber, was es bedeutet, Jude zu sein. Ob es ein Segen oder ein Fluch ist, warum uns die anderen nicht mögen, wo wir doch der Welt so viel gegeben haben: das Christentum, den Marxismus, die Psychoanalyse und den Bagel mit Lachs und Cream Cheese. Diesem Grübeln verdanken wir seit Baruch Spinoza die wichtigsten Werke der weltlichen jüdischen Kultur. Von Heinrich Heine und Schalom Alejchem, von Theodor Herzl und Theodor Lessing, von den Bundisten in Wilna und den Anarchisten in London führt ein direkter Weg zu Isaac Singer und Alan Dershowitz, zu Philip Roth und Leon de Winter. Und es gibt eine Art von informeller Arbeitsteilung zwischen den orthodoxen und den weltlichen Juden. Die orthodoxen sorgen dafür, dass die Regeln eingehalten und die Traditionen weitergegeben werden, die weltlichen sorgen dafür, dass das Judentum nicht untergeht.

Ich habe mich nicht versprochen, und sie haben sich nicht verhört. Es sind die weltlichen Juden, die dafür sorgen, dass das Judentum nicht untergeht. Nach der Überlieferung würde nämlich der Messias kommen und die Menschheit erlösen, wenn ALLE Juden an einem oder zwei Samstagen - auch darüber gehen wie üblich die Ansichten auseinander - alle Gebote und Verbote einhalten würden. Wenn sie nicht arbeiten, nicht Auto fahren und nicht Fernsehen und statt dessen nur beten und die Heiligen Schriften studieren würden. Doch was würde passieren, wenn so viel Gesetzestreue umgehend belohnt und der Messias erscheinen würde?

Die Menschheit wäre erlöst, aber um welchen Preis? Es wäre einfach alles vorbei. Kein Nord-Süd-Gefälle mehr und kein Ost-West-Dialog, keine Wahl der Miss World in Nigeria und keine Sanktionen gegen Saddam Hussein. All das könnte man noch akzeptieren, doch was wirklich ein arger Verlust wäre: Das Judentum, dessen wesentliche Aufgabe darin besteht, die Welt auf die Ankunft des Messias vorzubereiten, wäre obsolet, es würde sich auflösen, wie eine Brausetablette im Wasser. Mission accomplished, History completed.

Die Orthodoxen würden aufhören, den Allmächtigen zu preisen, die Häretiker, Zweifel zu verbreiten und die Reformer zu reformieren. Wenn das Judentum in all seinen Facetten erhalten bleiben soll, dann darf der Messias NICHT kommen. Und dafür, dass er nicht kommt, sorgen weltliche Juden, jeder auf seine Art. Ich esse auch am Samstag unkoschere Schinkenbrote, Leon de Winter sitzt am Computer und schreibt. So macht er sich nicht nur um die Literatur, sondern auch um den Fortbestand des Judentums verdient. Was im Prinzip das gleiche bedeutet. Denn das Judentum ist ein literarisches Konstrukt, der Sieg des Phantastischen über die Wirklichkeit.

Gegen die Fürsprecher der angewandten Feigheit

Leon de Winter wird heute für sein Gesamtwerk geehrt, für seine Romane, Essays, Kommentare und Polemiken. Er hat Max Breslauer, Leo Kaplan, Felix Hoffmann, Sol Mayer, Sascha Sokolow, Anneke Weiss und Joop Koopman erfunden und ihnen leben eingehaucht. Er ist ein Dichter, der auch im täglichen Meinungskampf eine klare Position bezieht: gegen die dummdreisten Gutmenschen, die den Terror der Fundamentalisten mit multikulturellem Dialog beantworten möchten, gegen die Fürsprecher der angewandten Feigheit, die glauben, verschont zu bleiben, wenn sie rechtzeitig kapitulieren.

Mit Leon de Winter ehren wir heute auch die tapferen holländischen Priester und Nonnen, die zwei Juden gerettet und, ohne es zu ahnen, einen wichtigen Beitrag zur Literaturgeschichte geleistet haben.

Vor zwei Jahren hat Imre Kertesz den Literaturpreis der Welt erhalten. Nehmen wir es als ein gutes Omen, Leon. Masel tov, und - lass mich bitte auch die nächste Laudatio halten.

11.11.2002

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