Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

28.03.2003   12:03   +Feedback

Bibel und Börse

D A S   L E T Z T E

Neulich im ZDF: Wolfgang Herles moderiert “aspekte”, die Hochkultur-Insel der Mainzelmännchen. Es geht darum, wer was liest. Herles sagt: “Grass ist einer der wenigen deutschen Schriftsteller, die auch in den USA wahrgenommen werden. Vielleicht nicht unbedingt dort, wo kaum anderes gelesen wird, als die neuen Börsenkurse und das Alte Testament.”

It's a miracle! It's the One and Only Bible Belt Buckle

Witzig, witzig, vor allem die Verknüpfung der neuen Börsenkurse mit dem Alten Testament. Doch was will uns der Moderator damit sagen? Was ist die Schnittmenge derjenigen, die das Alte Testament lesen und dabei an der Börse zocken? Sind es die wunderbaren Amish, die guten Shaker oder die letzten Mennoniten? Nein, denn die lesen nur die Heiligen Schriften und zocken nicht, die sehen nicht einmal “aspekte”. Wer könnte also gemeint sein? Ich schrieb Herles eine kurze E-Mail und bat ihn, mir den “seltsamen Satz” zu erklären. Daraufhin bekam ich von ihm diese Antwort:

“Erst Ihre Zeilen haben mich darauf gebracht, dass man diese Formulierung auf Juden in den USA beziehen konnte. Ich sprach allerdings ausschließlich von Christen im Bible Belt, von Leuten wie Bush, denen das alttestamentarische “Auge um Auge, Zahn um Zahn” gewiss näher ist als neutestamentarische Nächstenliebe, und die kein Interesse an europäischer Literatur haben, im Gegensatz zu weltoffeneren Ostküstenamerikanern und insbesondere stark in europäischen Traditionen wurzelnden Juden…”

Nun ist der junge Herles so sehr ein Antisemit wie er ein Kannibale ist. Freilich: Sogar überzeugte Vegetarier können manchmal einem Stück Carpaccio nicht widerstehen. Und so blabbert auch Herles von den “Ostküstenamerikanern” und dem “alttestamentarischen Auge um Auge, Zahn um Zahn”, ohne zu merken, was er sagt und welche Begriffe er benutzt.

Macht nix, denn er hat auch von der “neutestamentarischen Nächstenliebe” keine Ahnung, die sich so massiv bei den Kreuzzügen, im Laufe der Inquisition und zuletzt beim Schutz der bosnischen Muslime ausgetobt hat. Außerdem: die Sendung sei “live” gelaufen und er hatte “nicht viel Zeit über mögliche Fehlbedeutungen” des Satzes nachzudenken. Auch sei ich “bisher der Einzige, der den Satz missinterpretiert”. Wirklich? Fast zeitgleich mit der Mail an mich schickte Herles eine Mail an meinen Kollegen Eberhard T., der sich noch vor mir fragend an ihn gewandt hatte.

Die Antwort an T. war wortgleich mit dem Schreiben an mich. Offenbar hatte Herles schon einen Formbrief vorbereitet, und sie schloss auch mit dem Satz: “Übrigens sind Sie bisher der Einzige, der den Satz missinterpretiert.” Wenn ich der Einzige war, der Herles’ Satz missinterpretiert hatte, dann konnte es Eberhard T. nicht gewesen sein - und umgekehrt. So flunkerte Herles ein wenig an den Fakten vorbei, Wort um Wort, Satz um Satz, denn der Brief war nicht “live” und er hatte genug Zeit, darüber nachzudenken, wie er sich richtig interpretiert.

Henryk M. Broder, 28.3.2oo3

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