Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

27.01.2003   12:03   +Feedback

Eine gute Deutsche in Damaskus

D A S   L E T Z T E

Sehr geehrter Henryk Broder,

nachdem ich erfahren habe, dass der Leiter des Goetheinstituts Damaskus Manfred Wüst nach Indien versetzt wird, bin ich ihrem Beispiel gefolgt und habe Jutta Limbach einen Brief geschrieben. Ich lebe als freie Journalistin in Damaskus, berichte von dort für den ARD-Hörfunk und kenne Herrn Wüst persönlich. Im Gegensatz zu Ihnen hat mich der Entschluss, ihn zu versetzen, erschüttert und enttäuscht. Ich schicke Ihnen den Brief an Frau Limbach, weil darin vieles steht, was ich auch Ihnen mitteilen möchte.

Freundliche Grüsse von Kristin Helberg

Kristin Helberg, Damaskus 22. Januar 2003

An die Präsidentin des GoetheinstitutesProf. Dr. Jutta Limbach

Sehr geehrte Frau Limbach.

Mit Bestürzung habe ich von der Versetzung Ihres Goethe-Institut-Leiters Manfried Wüst von Damaskus nach Indien gehört. Ich lebe als freie Hörfunkjournalistin in Syrien und habe Herrn Wüst bei einigen offiziellen Anlässen persönlich kennen gelernt. Seine Kenntnis der Region, seine langjährigen Erfahrungen mit arabischen Christen, Muslimen und Juden, seine Offenheit und Bereitschaft zum Dialog und seine Fähigkeit, deutsches Rechtsverständnis in dieser Gegend der Welt zu vertreten, halte ich für außergewöhnlich.

Das Goetheinstitut geht wohl davon aus, dass Herr Wüst über ein (wie die Tageszeitung Die Welt es formuliert) “fragiles Rechtsbewusstsein” verfügt, das Gegenteil ist der Fall. Wer fünf Jahre in Ramallah die regelmäßigen Schikanen und den Terror der israelischen Armee miterlebt, ihn als Bewohner der Stadt zwangsläufig mit den Palästinensern teilt, kann die Israelis nicht als einzige Opfer des Konfliktes wahrnehmen. Er sieht mit eigenen Augen, dass die militärische Gewalt der Israelis eben nicht vor allem zur Verteidigung dient, sondern auch eine Form der Aggression gegen unschuldige Zivilisten ist. Angesichts des Ungleichgewichts zwischen hochgerüsteten israelischen Soldaten und sich mit bloßen Händen wehrenden Palästinensern kann selbst ein unpolitischer Besucher nicht neutral bleiben. Dass ein Goetheinstitutsleiter nach fünf Jahren Ramallah palästinensische Selbstmordattentäter nicht mit Terroristen gleichsetzt, sondern sie als Widerstandskämpfer betrachtet, ist gerade ein Zeichen von Aufgeklärtheit und Rechtsbewusstsein. Dies nicht nur zu denken (wie übrigens viele europäische Regierungsvertreter im Nahen Osten) sondern auch öffentlich zu sagen, mögen manche für naiv und unklug halten, ich finde es ehrlich.

Ich weiß nicht, ob Ihnen, verehrte Frau Limbach, bewusst ist, dass die Veranstaltung in Berlin anders verlaufen wäre, hätte sie vor einem Jahr stattgefunden. Kurz nach dem 11. September war eine breite öffentliche Diskussion über die Definition des Terrorismus im Gange. Dabei wurde in den Medien von verschiedenen Fachleuten darauf hingewiesen, dass nicht jede Form von Gewalt in den großen Topf des internationalen Terrorismus passt. Widerstand gegen Unterdrückung von staatlicher Seite verläuft in den seltensten Fällen gewaltfrei, erst recht wenn der Staat selbst Gewalt ausübt. Und wenn wir in Europa stolz sind auf die französische Revolution, ist es meiner Meinung nach anmaßend, heutige Widerstandbewegungen anderswo in der Welt als Terrorismus zu deklarieren und ihnen damit jede Berechtigung zu entziehen. Damit Sie mich nicht falsch verstehen: Ich verurteile jede Form von Gewalt, erst recht jene, die unschuldige da unbeteiligte Zivilisten trifft. Sie ist durch nichts zu rechtfertigen, aber in vielen Fällen zu erklären. So sind palästinensische Selbstmordattentäter nicht als solche geboren, ihr Leben, ihre menschenunwürdige Existenz in den besetzen Gebieten, ihre Erfahrung mit der Besatzungsmacht Israel hat sie zu solchen gemacht. Sie haben schlicht nichts zu verlieren, wenn sie sich umbringen. Wer will, dass Menschen in Palästina aufhören, sich und andere in die Luft zu sprengen, gebe den Palästinensern Waffen, damit sie sich wehren können. Oder entwaffne die Israelis. Die eine Partei jedoch jahrzehntelang aufzurüsten, sie zur best bewaffneten Nation der Region zu machen und den anderen den Besitz von Waffen zu verbieten, widerspricht dem deutschen Rechtsverständnis zutiefst.

Die RAF (die Henryk Broder in diesem Zusammenhang nennt) ist damit nicht zu vergleichen, da sie sich nicht gegen unmittelbare Unterdrückung wehrt, sondern für eine Ideologie kämpft. Palästinensische Selbstmordattentäter sterben weder für eine Ideologie noch für eine Philosophie, Religion oder Weltanschauung - sie sterben für ein menschenwürdiges Leben, eine Zukunft, ein sicheres Zuhause, ein eigenes Land. Alles Dinge, auf die wir Europäer uns so gerne berufen, wenn es um Menschenrechte und ihre vermeintlich weltweite Gültigkeit geht. Dass Leute wie Henryk Broder palästinensische Selbstmordattentäter mit den Attentätern des 11. September vergleichen, liegt (hoffentlich) daran, dass ihnen das Wissen um den Ursprung des Nahost-Konfliktes fehlt: die Probleme begannen nicht 1948 mit der Gründung Israels und den darauf folgenden Angriffen der arabischen Nachbarn, sondern lange vorher mit den Aktivitäten der Zionisten in der Region. Die Zionisten wiederum waren und sind keine frommen Juden, sondern eine politische Bewegung. Der Konflikt ist kein religiöser, sondern ein politischer, auch wenn Politiker sich immer wieder der Religion bedienen, um eigene Ziele zu rechtfertigen und ihre Anhänger zu mobilisieren. Ich habe in Damaskus Christen, Muslime und Juden gemeinsam gegen die israelische Besatzung demonstrieren gesehen. Übrigens allesamt Semiten. Vielleicht könnten wenigstens Sie als Juristin sich für einen korrekten Sprachgebrauch einsetzen: Semiten sind Menschen einer Sprachfamilie und damit nahezu alle Bewohner des Nahen Ostens unabhängig von ihrem Glauben. Nur in Israel leben nicht mehr viele Semiten, denn die meisten Israelis sind Einwanderer aus Europa und Amerika. Wer sich folglich Israel-kritisch äußert, kann als antiisraelisch beschimpft werden, nicht aber als Antisemit.

Frau Limbach, ich bin enttäuscht, dass das Goetheinstitut sich vor dieser Realität im Nahen Osten verschließt bzw. nicht den Mut hat, in der Öffentlichkeit für ein wahrhaftigeres Bild des Konfliktes einzutreten. Dass Sie jemanden wie Herrn Wüst für sein Gerechtigkeitsempfinden bestrafen und damit bei vielen Menschen das Vertrauen in die Bundesrepublik als Rechtsstaat ins Wanken bringen, macht mich wütend. Und die Tatsache, dass sich das Goetheinstitut einer vorübergehenden Stimmung im Land unterwirft anstatt eine kritische Debatte über Terrorismus, Widerstand, Freiheitskämpfer und deren Unterschiede zu führen, frustriert mich sehr. Falls Sie den schönen großen Eintopf aus “islamistisch-arabischem Terror” nach bewährt einfachem Rezept weiter am Kochen halten möchten und somit ihre eigenen Vertreter im Ausland auf Linie bringen müssen, empfehle ich Ihnen, das Goetheinstitut Ramallah zu schließen. Denn Sie können nicht verhindern, dass ein dort lebender deutscher Staatsbürger mit deutscher Rechtsauffassung zu ähnlichen Erkenntnissen wie Herr Wüst kommt. Sie sind eine logische Reaktion, die auf gesundem Menschenverstand und einem tiefen Gerechtigkeitsempfinden basiert. Ich lade all jene, die von palästinensischem Terror und israelischer Selbstverteidigung sprechen und schreiben, ein, den Alltag in diesem Teil der Welt persönlich zu erleben.

Freundliche Grüsse von Kristin Helberg.

27.01.2003

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