Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

30.03.2003   13:03   +Feedback

American Delicatessen

E S S E N   I M   B I G   A P P L E

Dass ich unweigerlich älter werde, merke ich daran, dass ich immer öfter vom Essen statt vom Ficken träume. Zuerst war ich bestürzt und wollte meine guten alten Träume wieder haben, dann lernte ich, das Beste daraus zu machen. Ich träume vom Essen in Amerika, genauer: in New York, denn entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil in “Old Europe” kann man nirgendwo - Thailand ausgenommen - so gut essen wie im “Big Apple”.

Zum Anbeissen: Der Big Apple

Es sind saubere und kalorienarme Träume. Von Lokalen, die es nicht mehr gibt, wie dem “Moon Palace” am Broadway, zwischen der 111 und 112. Straße. Es war ein Riesenrestaurant mit Nischen an den Wänden, runden Tischen in der Mitte des Raumes und großen Portionen auf geräumigen Tellern. Ich wohnte gleich um die Ecke, und auf dem kurzen Weg ins “Moon Palace” konnte ich meine Hemden bei der Wäscherei abgeben, Zeitungen holen und bei “Kinko’s” Fotokopien machen. Das war sehr praktisch und es vermittelte mir das Gefühl, noch vor dem Mittagessen etwas getan zu haben. Ein “Lunch Special” im “Moon Palace” kostete zwischen drei und fünf Dollar, nach dem dritten Besuch war man schon Stammgast und wurde an einem der besseren Tische in den Nischen platziert. Die Kellner waren wortkarg aber fürsorglich. “That’s no good”, sagten sie, wenn man das falsche Special bestellt hatte, “I have something better for you”. Und wie in jedem New Yorker Lokal konnte man das, was man nicht aufgegessen hatte, in einem “doggy bag” nach Hause mitnehmen. So hatte man gleich das Essen für den Abend und der leere Eisschrank lernte den Unterschied zwischen einem “Orange flavored duck” und einem “General Chang’s chicken” kennen.

Die kleinen Preise und die großen Portionen wurden dem “Moon Palace” zum Verhängnis. Eines Tages hing in der Tür ein Pappschild, “Closed”, ich hoffte, es würde sich nur um einen Trauerfall in der Familie oder eine vorübergehende Schließung wegen nicht bezahlter Schutzgebühren handeln, aber so war es nicht. Das “Moon Palace”, seit Jahrzehnten ein Fixpunkt auf der Upper West Side, hatte aufgegeben. Wahrscheinlich konnten die Besitzer die Miete nicht mehr bezahlen. In den Laden zog “Lechter’s” ein, ein Hardware Store, und wo früher Spring Rolls, Chop Suey und Fortune Cookies auf den Tisch kamen, gingen jetzt Töpfe, Stecker und Lüsterklemmen über die Theke. Es war wie in Berlin, als das “Aschinger” am Bahnhof Zoo geschlossen wurde. Am liebsten wäre ich auch weggezogen, aber ich blieb und tröstete mich damit, dass “Tom’s Restaurant” auf der anderen Straßenseite (der alte Diner, in dem sich Jerry Seinfeld mit seinen Freunden trifft) am Leben blieb und im “Hungarian Pastry Shop” zwei Blocks weiter südlich unbeirrt Wiener Mandelhörnchen zur Melange angeboten wurden.

Anfang der 9oer Jahre war New York noch nicht so blank geputzt wie heute, aber das große Aufräumen hatte schon begonnen. Blättert man dieser Tage in einem zehn Jahre alten Reiseführer, überkommen einen nostalgische Gefühle. Weißt du noch, das “Famous” in der 72. Straße, zwischen Broadway und Westend? Es war nicht unbedingt ein Feinschmeckertempel und hätte im Guide von de Beukelaer nicht einmal einen halben Keks bekommen, aber es war wirklich berühmt und es atmete Geschichte. Alles im “Famous” stammte noch aus den 3oer und 4oer Jahren, als die 72. Straße der Boulevard der Emigranten war: die Einrichtung, die Speisekarte und auch die Bedienungen, zierliche ältere Mädchen in schwarzen Hosen und weißen Blusen, die einem nur wenige Minuten für das Studium der Karte ließen: “Arrre you rrready?” An den Tischen wurde deutsch, polnisch, jiddisch, ungarisch und rumänisch gesprochen, nur die Speisekarte war englisch, ein Zugeständnis an die Location. Es gab im “Famous” nur vegetarische Gerichte, Bestseller und täglich auf der Karte war die “Mushrum-Barley-Soup”, Graupensuppe mit Pilzen, eine osteuropäische Spezialität, die alle Kriege, Pogrome und Umstürze überlebt hatte. Als Hauptgang Piroggen, gekocht oder gebraten, Lachs in vielen Variationen und “Latkes”, Kartoffelpuffer, mit Lachs, saurer Sahne und/oder Apfelmus. Zum Nachtisch natürlich Apfelstrudel.

Das “Famous” war Kino ohne Leinwand. Die Hauptdarsteller waren sorgfältig gekleidete Frauen und Männer zwischen 7o und 9o, die im Laufe der Jahre immer weniger wurden. Sie saßen vor einem Teller Kartoffel- oder Graupensuppe, in die sie Brot tunkten, wie es in Osteuropa der Brauch war. Und wenn ein Gast unter 3o durch die Tür trat, dann war es ein deutscher Tourist auf den Spuren der Geschichte oder ein Volontär beim “Aufbau”, der Emigrantenzeitung, der die Leser des Blattes mal in natura erleben wollte. Eines Tages schlug auch dem “Famous” die Stunde: “Closed”, ohne jede Vorwarnung. Die Stammgäste waren ratlos: Wohin sollten sie gehen? Ins “Eclair” schräg gegenüber? Zu eng, zu fein. Ins “Fine and Schapiro” auf derselben Straßenseite jenseits des Broadway? Zu teuer, außerdem am Samstag geschlossen, weil glatt koscher. Wo sollten sie sich treffen, gemeinsam Suppe löffeln und Erinnerungen austauschen? Ein altes Lokal hatte zugemacht, im Grunde “nothing to write home about”, aber für die Senioren von der 72. Straße eine Katastrophe, die außer ihnen niemand bemerkte. Das “Famous” verschwand spurlos, an seiner Stelle entstand ein brasilianisches Steakhaus, dem ein Tex-Mex-Laden folgte, der einem Sushi-Restaurant weichen musste - das übliche New Yorker Auf und Ab der Moden. Warum gibt es keinen Artenschutz für Cafés? Warum finden sich keine Sponsoren, die historische Essplätze am Leben erhalten, wie sie es mit Museen und Galerien tun? Jeder verschmockte Concept-Art-Produzent hat einen Gönner, der ihn unterhält, nur die Kunst, eine anständige Graupensuppe auf den Tisch zu bringen, findet keine Anerkennung.

Und jetzt hat es auch das “Ratner’s” erwischt. Es ist wie der Absturz der Concorde oder die Pleite der Swiss Air - etwas, womit niemand gerechnet hatte. “Ratner’s”, 19o5 eröffnet und seit 1918 im Besitz derselben Familie, war das Traditionslokal in New York, so wie das Hofbräuhaus in München oder die Coupole in Paris, nur ganz anders. Es lag mitten in der Lower East Side, in der Delancey Street an der Auffahrt zur Williamsburg-Bridge, die ins Zentrum von Brooklyn führt. Als das “Ratner’s” aufmachte, vor fast 1oo Jahren, war die Gegend von Juden aus Russland bewohnt, und die hatten auch ihre Essgewohnheiten mitgebracht, den Borscht aus roten Beeten und Kraut, den eingelegten Hering und den gefilten Fisch, alles Arme-Leute-Gerichte, die aus einfachen Zutaten und Resten zubereitet wurden. Als das “Ratner’s” im September letzten Jahres zumachte, war es eine osteuropäische Enklave in einem von “Hispanics” dominierten, verslumten Viertel der Lower East Side, in dem längst nicht mehr jiddisch und russisch, sondern spanisch auf der Straße gesprochen wird.

Anders als das “Moon Palace” und das “Famous”, die von Nachbarn frequentiert wurden, kamen die Gäste von “Ratner’s” aus ganz New York angefahren, vor allem am Sonntag zum Brunch und Lunch, denn abends gilt die Gegend um Delancey Street als unsicher. Dann saßen ganze Familien an den Tischen und machten einen Ausflug nach Kiew und Minsk, Lwiw und Vilnius. Die Speisekarte war grandios, sie bot alles, was man aus Fisch, Mehl, Sour cream und Gemüse machen kann, nur Fleisch war tabu. Die Arme-Leute-Speisen von gestern waren zu Delikatessen mutiert, und billig waren sie auch nicht mehr, nicht einmal der einfache Hering, “chopped”, in Sahne mariniert oder frisch aus dem Fass. Kaum war man platziert, standen schon zwei Schalen auf dem Tisch, eine mit Dillgurken, Salzgurken, Gewürzgurken und sauren Tomaten, eine mit ofenfrischen Mohn-, Sesam-, Zwiebel- und Kümmelbrötchen. Man musste sehr viel Selbstbeherrschung haben, um sich nicht mit den “pickles” und den “rolls” voll zu stopfen, bevor das Essen kam. Serviert wurde von Kellnern, die senfgelbe Smokingjacken und schwarze Fliegen trugen, wie ältere Brüder von Clark Gable aussahen und mit einer unglaublichen Grandezza voll beladene Tabletts auf einem Arm balancierten. Zuletzt war das “Ratner’s” in den 6oer Jahren renoviert worden, in den Formen und Farben jener bunten, kurvenreichen Jahre. Kurzum: Ein Besuch bei “Ratner’s” war eine Zeitreise bei bester Verpflegung. Jetzt ist der Trip erstmal vorbei.

Doch wer weiß? Vielleicht sitzen irgendwo in der großen Stadt die ehemaligen Besitzer von “Moon Palace” mit den ehemaligen Besitzern von “Ratner’s” an einem Tisch und überlegen, ob sie gemeinsam ein Lokal aufmachen, eines, das etwas Neues bieten müsste und doch typisch für New York wäre, eine Mischung aus chinesisch, jüdisch, vegetarisch, kalorienarm und gesund. Es könnte “World Deli Nr. One” heißen. In meinem nächsten Traum tafele ich in einem Lokal, das es so noch nicht gegeben hat.

Henryk M. Broder, 3o.3.2oo3

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