Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

22.09.2003   13:04   +Feedback

Bei der Miss-Wahl treten nur Männer an

F I R E   I S L A N D

Fire Island, eine 32 Meilen lange Düne vor Long Island, ist das Öko-Paradies der New Yorker; eine Sommefrische für Protestanten, Juden und Schwule, die etwas erleben oder unter sich bleiben wollen.

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Eine Bahnstunde östlich von New York wird Amerika ganz anders. Es gibt keine Autos, keine Shopping Malls, keine Diner, nicht einmal einen Dunkin’ Donuts oder einen Starbucks. Die Menschen gehen zu Fuß oder fahren Rad. Die Höchstgeschwindigkeit ist auf fünf Meilen pro Stunde fest gelegt. Wenn ein Radfahrer einen Fußgänger überholen will, ruft er schon von weitem »On your left!« und drückt auf die Klingel. Kinder radeln mit Sturzhelmen, ältere Leute pedalieren auf großen Dreirädern. Einkäufe und Gepäckstücke werden mit Handkarren befördert. Dafür laufen überall Hirsche und Rehe frei umher, für die keine Restriktionen gelten. Die meisten Gärten sind verwildert, die Häuser verstecken sich hinter dichtem Schilf und meterhohen Bambuspflanzen. Sie sind nur über Holzstege zu erreichen, denn am Boden wächst »poison ivy«, giftiger Efeu, der unter Naturschutz steht.

So könnte es auf Sylt aussehen, wenn die Grünen zusammen mit Green-peace und dem Bund für Naturschutz die Insel übernehmen würden. Fire Island ist das Sylt der New Yorker, eine 32 Meilen lange Düne vor der Südküste von Long Island, so schmal, daß man fast überall von der Bay Side zur Ocean Side sehen kann, ein Naturschutzgebiet und die Art von Paradies, von der gestresste Städter träumen. Im 17. und 18. Jahrhundert diente Fire Island Walfängern und Schiffsräubern als Basis, später nutzten Alkoholschmuggler die Insel als Depot und Versteck. Ende des 19. Jahrhunderts wurde Fire Island für den Tourismus entdeckt und die erste Herberge gebaut, das Surf Hotel, in dem viele berühmte Gäste, residierten, u.a. Herman Melville, der Schöpfer von Moby Dick. Heute stehen rund 5.ooo Häuser auf der Insel, einfache Hütten neben avantgardistischen Bauten aus Holz und Glas. Die Zahl der Einwohner hängt von der Jahreszeit ab.

»Im Sommer sind es an den Wochenenden 2o.ooo und mehr, im Winter bleiben höchstens 3oo Leute hier«, sagt Nicole Pressly, Verlegerin und Chefredakteurin der »Fire Island News«. Sie hat die Zeitung, die seit 1957 erscheint, vor sieben Jahren gekauft, als die Vorbesitzer das Blatt einstellen wollten. »Es war eine verrückte Idee, die mich meine Ersparnisse gekostet hat, aber ich wollte es unbedingt machen.«

Pressly, 1968 in Manhattan geboren, hat an der New York University »International Politics« studiert, für Öko-Magazine wie das »Earth Journal« geschrieben und Lokalzeitungen wie den »Queens Courier« redigiert. Solche Brot-und-Butter-Jobs macht sie immer noch, allerdings nur im Winter, im Sommer, das heißt von Mai bis September, produziert sie mit nur vier Mitarbeitern alle zwei Wochen eine neue Ausgabe der Fire Island News. Alles, was auf der Insel passiert, wird gewürdigt. Zum Beispiel, wie sich die Insulaner halfen, als plötzlich die Lichter ausgingen, beim großen Blackout am 14. August. »Stoff haben wir genug, es ist nur schwierig, die Zeitung an die Leser zu bringen.«

Es gibt 18 »Communities« auf Fire Island, von Kismet im Westen (gegründet 1925) bis Davis Park im Osten (gegründet 1945), die alle ein Eigenleben führen, manche sind so klein, so wohlhabend und so sehr auf Exklusivität bedacht, dass man sie nur mit einem Privatboot erreichen kann. Einige haben nicht einmal einen Laden, die Einwohner müssen alles, was sie brauchen, vom Festland mitbringen. Keine Straße verbindet die Orte untereinander, wer in Saltaire wohnt und Bekannte in Ocean Bay Park besuchen möchte, muss stundenlang am Strand laufen oder ein Wassertaxi nehmen. Und das ist nicht billig. »Die meisten bleiben dort, wo sie sind, sie kennen ihre Nachbarn und fühlen sich wohl unter ihresgleichen.«

So kommt es, dass jeder Ort eine spezielle Charakteristik hat. In Point O’Woods, der ältesten »Community« auf Fire Island, gegründet 1894, leben nur »WASP«-Familien - weiße, angelsächsische Protestanten; Seaview dagegen ist mehrheitlich jüdisch und Chery Grove vorwiegend schwul, aber anders als das ebenfalls schwule Pines. »Nach Cherry Grove kommen die hippen Schwulen, die Lesben und die Künstler. Pines ist männlicher, konservativer und reicher.«

Den größten Teil ihrer Auflage von 15.ooo Exemplaren verkauft Pressly in Ocean Beach, der »Hauptstadt« von Fire Island. Ocean Beach besteht aus zwei Längs- und zehn Querstraßen und ist trotzdem eine richtige Stadt: mit einem gewählten Bürgermeister, einer Polizeistation, einer Freiwilligen Feuerwehr, einem Kino, zwei Kirchen, zwei Supermärkten, drei Hotels, einer Handvoll Restaurants, einígen Bars und Kneipen und 6oo kleinen Häusern - alles auf einer halben Quadratmeile. Es gibt Parkplätze auf Long Island, die viel größer sind.

Wenn Fire Island eine Öko-Utopie ist, dann ist Ocean Beach das Pleasantville in der Wirklichkeit. Zwischen dem »commercial district« am Hafen und der »residential area« verläuft eine Grenze, die von Schildern markiert wird. »No eating or drinking beyond this point.« Verboten ist auch das Radfahren nach 19 Uhr und an Feiertagen, der Konsum von Alkohol auf der Straße und Flanieren mit nacktem Oberkörper. Dafür, dass die lokalen Gesetze eingehalten werden, sorgt Edward T. Paradiso, Chief of Police in Ocean Beach. Vor 43 Jahren in Queens geboren, wollte er eigentlich Profi-Baseball-Spieler werden. Weil er früh heiratete und eine Familie versorgen musste, nahm er einen Job als Kaufhausdetektiv an, besuchte die Polizeischule und wurde 1982 nach Ocean Beach geschickt. Er kennt jeden in der Stadt und jeder kennt ihn, den Bilderbuch-Cop. »Unsere Aufgabe ist es, die Stadt schön und sauber zu halten.« Von Oktober bis April sorgen er und sein Vertreter für Ruhe, Ordnung und Sauberkeit, im Sommer, also von Mai bis September, wird die Polizeitruppe auf 25 Mann verstärkt. Denn dann kommen auch Touristen nach Ocean Beach, »und die bringen ihre Probleme mit.«

Paradiso kann sich nicht erinnern, wann zuletzt ein richtiges Verbrechen in seinem Bezirk passiert wäre, aber »kleinere Sachen kommen immer wieder vor«, Prügeleien unter Alkoholeinfluß und alle möglichen Variationen von »disorderly conduct«. Als er einen Mann sieht, der ohne Hemd an der Polizeistation vorbei geht, ruft er ihm zu: »Wenn du in die Stadt willst, musst du dir was anziehen!« Und schon hat der Mann das Hemd an, das er sich um die Hüfte gebunden hat. Nur Irre und Betrunkene legen sich mit Chief Paradiso und seinen Cops an.

Wie Lester, ein junger Schwarzer aus New York, der sich unter Alkoholeinfluß seiner Verhaftung widersetzte. Jetzt steht Lester vor Gericht, bekennt sich schuldig und erhofft ein mildes Urteil. Ocean Beach ist der kleinste Gerichtsbezirk im Staate New York, das Hohe Gericht tagt einmal pro Woche in einem Häuschen neben dem Kinosaal, den Vorsitz führt Richter Joseph Russell. Aber es ist die Gerichtssekretärin Winifred Loeffler, eine energische ältere Dame, die den Ton angibt. Sie ruft »All rise!«, bevor der Richtrer den Saal betritt, vereidigt die Angeklagten, wenn sie als Zeugen in eigener Sache aussagen, schickt Zuhörer, die keinen Sitzplatz gefunden haben, vor die Tür und kassiert die Bußgelder, die Richter Russell verhängt. Verhandelt werden Ordnungswidrigkeiten und kleine Vergehen. Die Höchststrafe, die Richter Russell verhängen könnte, wäre ein Jahr Haft oder 1.ooo,- Dollar Bußgeld. Aber dazu kommt es nicht. Ein Bürger von Ocean Beach, der seine Mülltonnen am falschen Tag auf die Straße gestellt hat, muß 2oo,- Dollar zahlen, ein junger Mann, der zur Unzeit geradelt ist, 25,- Dollar; ein Mädchen, das um Bier kaufen zu dürfen in einer Kneipe den Ausweis einer älteren Freundin vorgezeigt hat, kommt mit einer Verwarnung davon: »Don’t try it again, young lady!«

Nur Lester, der sich seiner Festnahme widersetzt hat, wird zu 15 Tagen Haft verurteilt und sofort abgeführt, in ein Gefängnis auf Long Island. Richter Russell nimmt seinen Job sehr ernst, wie ein Modellbauer, der darauf achtet, dass alle Details stimmen. Er hat viele Jahre als Firmenanwalt in New York gearbeitet, zuletzt für den Sender CBS. 1988 zog er sich in sein Haus in Ocean Beach zurück. Ein Jahr darauf wurde er gefragt, ob er nicht der Nachfolger von Richter Benjamin William Mehlman werden möchte, der 35 Jahre lang in Ocean Beach Recht sprach. Russell sagte ja und wurde seitdem dreimal zum »Judge« gewählt. Inzwischen 75 Jahre alt, überlegt er, ob er 2oo6 noch einmal antreten soll. »Die Arbeit hält mich jung.« Und es macht ihm nichts aus, dass er Nachbarn, die er heute verurteilt hat, morgen auf der Straße begegnet. »Das Gesetz gilt für alle.«

Und wie alles auf Fire Island hat auch die Rechtsprechung eine Hoch- und eine Nebensaison. Vom Memorial Day im Mai bis zum Columbus Day im Oktober wird jeden Samstag ab 1o:3o Uhr verhandelt, im Winter kommt Richter Russell »nach Bedarf« von New York angereist.

Ruhig wird es auf Fire Island gleich nach Labour Day, Anfang September, wenn die New Yorker die Insel verlassen haben. Dann bleiben die Eingeborenen unter sich. Die Feuerwehrleute von Ocean Beach beenden den Sommer mit einem großen Pancake-Frühstück, die Rotarier laden zu einem Entenrennen zugunsten wohltätiger Einrichtungen ein und im Grove Hotel wird zum 38. Mal die »Miss Fire Island« gewählt. Während bei den Feuerwehrleuten und den Rotariern auch Frauen dabei sind, bleiben bei der Miss-Wahl die Männer unter sich.

]22.09.2003

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