Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

25.10.2003   13:02   +Feedback

Hannes Stein: Warum hassen Europäer die USA so sehr?

H A N N E S   S T E I N

Rede, gehalten zum zweiten Jahrestag des Massakers in Washington, DC und New York City; In der Alten Synagoge Essen am 11. September 2003

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

am Abend des 11. September 2001 ging ich spät von der Arbeit nach Hause. Es war ein anstrengender Tag gewesen in der Redaktion: wie die meisten meiner Kollegen war ich gelähmt von den unfassbaren Nachrichten aus Washington, D.C. und New York City. Zum Glück war mir bis jetzt nicht viel Zeit zum Grübeln geblieben. Die Zeitung musste ja so rechtzeitig fertig werden wie an jedem gewöhnlichen Dienstag, doch mit einem Mal war ich nur noch traurig und müde und verwirrt. Und ich weiß nicht, ob Sie diesen Zustand kennen: auf einmal brauchte ich dringend etwas ganz Bestimmtes zu essen. Verlockend stieg mir ein Bild in die Nase: Gulaschsuppe, scharf und dampfend.

Transparent von einer Friedensdemo 2003 in Berlin: USA - 3. Reich - Ihr seid euch so gleich
Friedensdemo, Berlin 2003

Die beste Gulaschsuppe von Berlin gibt es in der Nähe meiner Wohnung, am Kollwitzplatz auf dem Prenzlauer Berg. Als ich in die Kneipe kam, lief längst der Fernseher: immer wieder die einstürzenden Zwillingstürme in New York, die rauchenden Trümmer des Pentagon. Dazwischen alle möglichen und unmöglichen Experten. Während ich auf meine Suppe wartete, hörte ich, wie am Nebentisch ein Mann in sein Händie sprach, als sei es ein Megaphon: »Bush, der Verbrecher! Die Amis glauben jetzt, sie können sich alles erlauben! Dahinter stecken nur die Israelis! Scharon, dieser Faschist!« Nun ja, ein Verrückter, dachte ich, und löffelte ungerührt meine Suppe. Dann begann irgendein Fußballspiel. Der nette Kneipenwirt ging nach nebenan und schaltete eine Großbildglotze an. Die Hälfte der Leute verzog sich ins Nebenzimmer. Und das übliche Fußballgegröle war lauter, ostentativer als sonst. Es hatte einen Unterton von: Fuck the US of A - oder bildete ich mir das nur ein? Jedenfalls schmeckte mir meine Suppe nicht mehr, ich zahlte und ging.

Erst dachte ich, mein kleines Erlebnis (wenn man es überhaupt so nennen will) sei nicht besonders wichtig, oder auf neudeutsch: nicht repräsentativ. Das war ein Irrtum. Die Stimme jenes Verrückten am Nebentisch, dessen erste Regung nach dem Massenmord in Manhattan war, Amerika und Israel zu verfluchen - sie wurde im Lauf der nächsten Wochen kein Dezibel schwächer. Sie wurde immer lauter. Auf allen Fernsehsendern erschienen Fachleute, die mit besorgten Mienen und gereckten Zeigefingern warnten: man dürfe jetzt den Glauben Mohammeds nicht verteufeln. Im Grunde sei der Islam eine Religion des Friedens, der allgemeinen Menschenliebe und der Toleranz.

Ich fragte mich damals zwei Dinge. Erstens, ob jene Fachleute ihre Nasen jemals in den Koran gesteckt hatten. Und zweitens: was wohl geschehen wäre, wenn sich hinterher herausgestellt hätte, dass die Massenmörder des 11. September streng gläubige Katholiken, Mitglieder des »opus dei« waren? Hätten uns dann die versammelten Religionsexperten mit steilen Sorgenfalten auf der Stirn belehrt, dies sei jetzt aber nicht der richtige Augenblick, um Witze über den Papst zu machen? Hätten sie uns gemahnt, Respekt vor dem Katholizismus zu haben? Hätten sie an das Massaker von Drogheda erinnert, das Oliver Cromwells protestantische Parlamentsarmee im 17. Jahrhundert in Irland verübte? Hätten sie uns darauf hingewiesen, dass der Hass der Katholiken auf Amerika nicht ganz unberechtigt sei, wenn man bedenkt, dass die USA von radikalen Protestanten gegründet wurden?

An dieser Stelle kann ich mir einen kleinen historischen Rückblick auf Tatsachen nicht verkneifen, die in den Wochen nach dem 11. September im Orkus verschwanden. Nämlich: für niemanden haben sich die Amerikaner im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts so eingesetzt wie für Muslime. Sie halten das für übertrieben? Please think again: nach dem Golfkrieg von 1991 richteten die USA militärische Schutzzonen im Irak ein - für Kurden und Schiiten, also für Muslime. Später schickten sie die Marines nach Somalia, die versuchten, die Bevölkerung vor Warlords zu schützen. Die meisten Somalis sind moslemischen Glaubens. Noch später griffen sie in den jugoslawischen Krieg ein, um die Bosniaken vor einem Genozid zu bewahren. Im Kosovokrieg ging es den Amerikanern darum, die Vertreibung tausender Albaner zu verhindern. Muslime, immer Muslime! Der Staatsmann, der in den neunziger Jahren am häufigsten im Weißen Haus empfangen wurde, hieß (bitte raten Sie) Jassir Arafat. Niemand in der westlichen Welt hat sich so heftig für die Errichtung eines Palästinenserstaates eingesetzt wie der damalige amerikanische Präsident, ein ungewisser Bill Clinton.

Bitte missverstehen Sie mich nur ja richtig. Ich habe nicht vor, in die passende Gegendummheit zu jenem Mann zu verfallen, den ich unfreiwillig beim Essen meiner Gulaschsuppe belauschte. Es liegt mir also fern, die Amerikaner als Ritter ohne Fehl und Tadel zu schildern. Hier eine unvollständige Liste ihrer Versäumnisse: sie haben Arafat nicht klargemacht, dass mehr und anderes von ihm erwartet wurde als die Errichtung der arabischen Diktatur Nr. 22. Auf diese Weise haben die Amerikaner unfreiwillig die islamischen Fundamentalisten im Westjordanland und im Gazastreifen unterstützt, denn die konnten sich nun als Alternative zu Arafats korrupter Clique präsentieren. Die Hamas, von der wir gelegentlich in den Nachrichten hören, hat ja einen Januskopf. Sie ist einerseits eine Terrorgruppe, die Jugendliche dazu aufhetzt, sich in Caféhäusern und Supermärkten in die Luft zu sprengen - und sie ist zugleich auch eine Organisation, die in den besetzten Gebieten selbstlos Kindergärten baut und Universitäten betreut. Das Entsetzlichste an der Hamas ist ihr reiner, ihr unverfälschter, ihr mörderischer Idealismus.

Womöglich noch unverständlicher ist indes die Blindheit, mit der die USA jahrelang auf Saudi-Arabien schauten. Sie wollten in den Saudis verbündete sehen und übersahen dabei eine Kleinigkeit: die waren längst mit den Todfeinden Amerikas im Bund. Das Feudalregime in Riad ist wie durch kommunizierende Röhren mit Al-Kaida verbunden - wer mehr wissen will, lese Dore Golds vorzügliches Buch »Hatred´s Kingdom«. Die arabischen Nabobs überweisen den Terroristen Geld, um so für ihren sündhaften westlichen Lebenswandel zu büßen. Mit ihren Petrodollars finanzieren sie Moscheen, in denen Hass auf Juden und Amerika gepredigt wird, und nichts in der Welt wird sie je dazu bewegen, Frauen als Menschen zu betrachten.

Dazu eine kleine Anekdote: nach dem 11. September schwebte der saudische Kronprinz mit seinem Privatflieger auf George W. Bushs Farm in Texas ein. Und er verlangte, alle weiblichen Fluglotsen auf seiner Strecke von ihrem Dienst zu suspendieren, sobald er in den amerikanischen Luftraum eingedrungen sei, weil Frauen nach islamischem Glauben nicht in diesem Männerberuf arbeiten dürfen. Und was taten die Amerikaner? Tippten sie sich mit stolzem Zeigefinger an die republikanische Stirn? Denkste! Sie waren dem hohen Herrn eifrigst zu willen. Die weiblichen Fluglotsen wurden untertänigst entfernt.

Der unverzeihlichste Fehler von allen aber war, dass die US-Army 1991 den Bodenkrieg im Irak zu früh abbrach. Sie ließ Saddams republikanische Garden intakt und sah anschließend Gewehr bei Fuß zu, wie die erst im Süden die Schiiten, dann im Norden die Kurden massakrierten. Ihre Massengräber finden wir heute.

Die Folge war nicht nur moralisch, sondern ganz realpolitisch verheerend. Saddam nämlich konnte seine blutige Herrschaft konsolidieren, er fiel nicht. Und weil er nicht fiel, stand er in den Augen der meisten Araber als der Sieger des Konflikts da. Und weil er als der Sieger dastand, erschienen die Amerikaner als dekadente Schwächlinge. Die islamisch-fundamentalistische Logik ging so: gläubige Moslems hatten es vollbracht, die Sowjets aus Afghanistan zu vertreiben. Hinterher war die Sowjetunion erbärmlich in die Knie gebrochen. Warum sollte das jetzt mit den USA nicht auch gelingen?

Als die Amerikaner dann auch noch - mit eingezogenem Schwanz, wie es schien - aus Somalia abzogen, war ihr Schicksal in den Augen der Fundamentalisten besiegelt. Die waren nicht bereit, Opfer hinzunehmen! Die waren nicht mehr fähig, Krieg zu führen! Es folgte eine Serie von Anschlägen rund um den Globus, von denen einer blutiger als der andere war. 1993 gab es schon einmal einen versuch, die Twin Towers in die Luft zu sprengen, und zwei der Attentäter hatten irakische Pässe - aber Amerika schlief selig und arrogant den Schlaf des Selbstgerechten. Bis es am 11. September in Manhattan zweimal apokalyptisch krachte und sogar George W. Bush hoch droben in seinem Präsidentenflugzeug kapierte: hätten Osama und Genossen Uranbomben besessen, dann wäre über New York der große Pilz am Himmel erschienen.

All dies sind legitime Punkte der Kritik an den Amerikanern. Ich habe sie auch schon häufig vernommen - von Amerikanern jeglicher politischen Couleur. Sie nehmen sich allesamt kein Blatt vor den Mund: neokonservative Falken, realpolitische Adler, aber auch ein nobler Sozialdemokrat wie Paul Berman. Wo ich diese Kritik an Amerika jedoch so gut wie nie gehört habe: in Europa. Auf dem guten alten Kontinent regierten die schlechten alten Gewohnheiten. Damit meine ich: Denkfaulheit, Selbstgerechtigkeit, Desinteresse. Viele Europäer reagierten so wie in einem Vergewaltigungsprozess, wo der Richter das Opfer mit hochgezogenen Augenbrauen fragt, ob es nicht vielleicht doch einen etwas zu kurzen Rock anhatte.

Bald hatten sich die meisten Intellektuellen (mit ganz wenigen Ausnahmen) auf folgende Formel geeinigt: Der 11. September sei die Quittung für die Ausplünderung der dritten Welt durch kapitalistische, d.h. amerikanische Konzerne. Unheilige Einfalt! Selbst wenn es stimmen würde, dass der Westen die Entwicklungsländer ausbeutet - es stimmt nicht -, bliebe dieses Argument dennoch merkwürdig. Und warum? Bitte schön: Es waren gar keine hungernden Afrikaner und keine mexikanischen Armutsflüchtlinge, die das World Trade Center in einen Haufen aus Schutt und Leichen verwandelten. Es waren junge Männer aus stinkreichen arabischen Familien. Angestiftet wurden sie zu ihrer ungeheuerlichen tat von einem saudischen Milliardär, dem die armen dieser erde herzlich egal waren.

Die zeit schritt mit Siebenmeilenstiefeln von dem Massaker in Manhattan fort. Die Trümmer wurden weggeräumt, die tapferen New Yorker Feuerwehrleute bekamen Orden, es wurde Frühling. Ein Ultimatum wurde gestellt, ein Ultimatum verstrich. Und je weiter die Zeit fortschritt, desto größer wurde auch der Abstand zwischen der europäischen Wahrnehmung und der Wirklichkeit. Es war, um einen Vers von Wolf Biermann zu zitieren, »zum Weinen, zum Lachen, zum Haare ausraufen, zum Schrein«. Ich erinnere mich, wie dutzende Schauspielerinnen, Liedermacher und Friedensforscher in einer deutschen Illustrierten empört zum Ende des Krieges in Afghanistan aufriefen. Unterdessen jubelten die Einwohner von Kabul längst über ihre Befreier. Die Männer ließen sich lachend die Fundamentalistenbärte rasieren, viele Frauen legten ihre Burkas ab.

Irgendwann zwischendurch gab es sogar den Aufschrei: »Die Amerikaner verüben in Afghanistan einen Genozid!« Zur gleichen Zeit kehrten drei Millionen afghanische Exilanten in ihr Heimatland zurück. Mädchen konnten zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder in die Schule gehen. Wenn das ein Völkermord war, dann war es der erfolgloseste in der Geschichte der Menschheit.

Dann entschlossen sich Amerikaner und Briten 2003, endlich endlich den Krieg zu Ende zu führen, den sie 1991 begonnen hatten. Erklärtes Kriegsziel war es, Saddams faschistisches Baath-Regime zu stürzen. Fast ganz Europa war entsetzt. Wieder erschienen die Fachleute mit den gerzunzelten Stirnen auf den Mattscheiben, einer von ihnen - Peter Scholl-Latour - schien wie Saddam über Doubles zu verfügen, so viele Talkshows besuchte er. Der Himmel wurde düster, zwischen Blitz und Donner hagelte es Orakelsprüche: dieser Waffengang werde hunderttausende Tote kosten. Die arabische Welt werde sich wie ein Mann gegen die USA erheben. Es werde einen Flächenbrand geben. Die Iraker würden den Amerikanern ein zweites Vietnam bereiten. Nichts davon ist eingetreten.

Dann marschierten Friedensdemonstranten durch die Straßen. Will sagen, was heißt hier »Friedensdemonstranten«! Ich habe es in Berlin gesehen: die amerikanische Botschaft musste von der Polizei scharf bewacht werden - vor der irakischen Botschaft stand kein einziges Polizeiauto. Die Friedensbewegung der achtziger Jahre gab sich immerhin noch den Anschein, als stünde sie zwischen den beiden so genannten Supermächten - gleich weit entfernt von den demokratischen USA hier und der totalitären Sowjetunion dort. »Äquidistanz« hieß damals das Zauberwort. Dieses Mal hatte man alle Schamhaftigkeit aufgegeben, man war vollkommen ungeniert. For the record: Das waren antiamerikanische Kundgebungen und weiter gar nichts. Mein Freund Eldad Beck, der Deutschlandkorrespondent der israelischen Tageszeitung »Jedioth Achronoth«, sagte mir neulich: als Augenzeuge dieser Kundgebungen habe er den lähmenden Hauch des Totalitarismus gespürt.

Am 9. April 2003 verschwand das Saddam-Regime - wie der Dichter T.S. Eliot gesagt hätte - nicht mit einem Knall, sondern mit einem Winseln. Ich habe in meinem noch nicht ganz so langen Leben schon gesehen, wie Lenins Statuen von den Sockeln stürzten - jetzt war ich Zeitgenosse, als die Statuen des schwachsinnigen schnauzbärtigen Tyrannen am Tigris umgerissen wurden. Und seither versuchen die Amerikaner und die Briten, zum entsetzen sämtlicher Despoten im Morgenland, den Irak in eine liberale Demokratie zu verwandeln. Selbstmordattentate lassen die Koalitionssoldaten on bloody seas segeln. Und zwischendurch enthüllt sich das bestgehütete, das grauenhafte Geheimnis der arabisch-islamischen Welt. Dieses Geheimnis ist nicht, dass dort alles vor Wut kocht, dass ein Dampfdruckkessel kurz vor der Explosion steht. Das Geheimnis ist vielmehr ein allgemeiner Stupor, ein fast schon totaler Verlust der Fähigkeit, sich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern.

Lassen Sie mich auch dazu eine Anekdote erzählen. Vor kurzem gerieten amerikanische Soldaten, die nach einem Mitglied der Baath-Partei fahndeten, auf einen Hinterhof in Bagdad. Dort stapelte sich der Müll und stank. Die Anwohner verlangten von den Amerikanern ultimativ, sie sollten ihren Müll entfernen - natürlich dachten die gar nicht daran. Diese Art der Mentalität kennt man auch von manchen der gelernten Untertanen in der ehemaligen DDR und der Sowjetunion: es handelt sich um Spätfolgen, seelische Verwüstungen, die der Stalinismus hinterlassen hat.

Lassen Sie mich aber eins ganz nüchtern feststellen: es geht nur um verschiedene Grade des Sieges für die Amerikaner, niemals um eine Niederlage. Das Haus Saddam wird nicht an die Macht zurückkehren. Im schlimmsten Fall werden die USA ihre Soldaten abziehen und eine Militärbasis zurückbehalten, um von dort aus Syrien zu ärgern. Das wäre dann zwar nicht so gut für den Irak - aber jeder nachfolgende autokratische Herrscher wüsste immerhin, was ihm blüht, wenn er sich danebenbenimmt. Und ich halte es, nach fünf Monaten, immer noch für möglich, dass das amerikanische Experiment im Zweistromland gelingt. Immerhin gibt es dort keine humanitäre Katastrophe, keine Hungersnot, keine Flüchtlingsströme. Vergleichen Sie das mit Frankreich, wo im vergangenen Sommer während einer Hitzewelle 10 000 Menschen gestorben sind.

Gleich neben dem Irak, in der Islamischen Republik Iran, riecht es gefährlich nach Atombomben - aber es riecht auch nach einer demokratischen Revolution. Die Studenten in Teheran rufen ganz ungeniert nach freien Wahlen, unabhängigen Gerichten, einer ungefesselten Presse. Und sie sagen ganz klar: es freut sie, dass zu ihren Nachbarn nun das 101st Airborne gehört.

In Europa dagegen freut sich fast niemand. Die Freunde Amerikas kann man an den Fingern eines Sägereiarbeiters abzählen. Es herrscht eine dumpfe, stumme Feindseligkeit gegen die Nation unter dem Sternenbanner, die wie ein Wutvulkan in periodischen Abständen Lava und Phrasen spuckt. »Die Stimmung war noch nie so antiamerikanisch«, bemerkte kürzlich der Schriftsteller Peter Schneider, »nicht einmal während des Vietnamkriegs.« Und Peter Schneider, der zu den berüchtigten Alt-68ern gehört, muss es ja wissen. Über die Ursachen dieser Wut ist schon viel gegrübelt worden, mit mehr oder weniger Erfolg, ich biete Ihnen hier meine Erklärung an.

Wenden wir uns noch einmal dem Mann mit dem Händie zu, den ich am Abend des 11. September in jener Ostberliner Kneipe belauschte. Fällt Ihnen etwas auf, geehrte Mit- und Zuhörer? Schon damals, und ohne dass Osama bin Laden in einer Videobotschaft etwas von »Palästina« gefaselt hatte, sprach er von den »Israelis, diesen Faschisten«. Erklären Sie mir: was hat Israel mit dem Massenmord in Manhattan zu tun? Wie kam der Mann auf die Idee, von dem Leichenberg in Amerika führe eine lückenlose Kette aus Ursachen und Wirkungen bis hinüber zu einem jüdischen Zwergstaat am Rand der arabischen Wüste?

Ich will es Ihnen erklären: der dezibelstarke und gedankenschwache Mann in der Kneipe wusste, dass die Vereinigten Staaten von Amerika der große Bruder von Israel sind, der seinen kleinen Bruder beschützt. Und er brauchte Osama bin Laden gar nicht, um zu kapieren, dass die islamischen Fundamentalisten nicht ruhen werden, bis es in Palästina einen »gerechten Frieden« gibt. Ein gerechter Frieden aber, das wissen Sie so gut wie ich, bedeutet im Jargon der Fundamentalisten nichts anderes als die Zerstörung Israels.

Die Ursache-Wirkungs-Kette funktioniert also wie folgt: kein Israel-keine amerikanische Schutzmacht-kein arabischer Hass auf die westliche Welt-kein Terror. Es ist ein metaphysisches Schema, bei dem die Gründung Israels als Ursünde erscheint. Ein ziemlich bekanntes Hamburger Nachrichtenmagazin machte den Zusammenhang sinnfällig, indem es zwei Fotos nebeneinander stellte: auf der einen Seite die bombardierten Twin Towers in New York - auf der anderen das bombardierte King-David-Hotel in Jerusalem. Das King-David-Hotel war in den dreißiger Jahren von Menachem Begins jüdischer Irgun-Gruppe angegriffen worden, weil dort die britische Besatzungsmacht ein Hauptquartier unterhielt. Noch fragen? Von so was kommt eben so was. Oder auf gut deutsch: the jews are always guilty, especially when they are not guilty.

Der europäische Antiamerikanismus ist nicht von vorgestern, aber doch immerhin von gestern. Er beginnt schon im 18. Jahrhundert. Amerika war die ganz große Leinwand, auf die Europa all seine Ängste projizierte: Abscheu gegen die Moderne, die Geldwirtschaft, den Kapitalismus, die Massendemokratie. Damit ist es im wesentlichen vorbei. Die meisten Europäer fürchten sich, so scheint mir, nicht mehr so wahnsinnig vor der Moderne. Sie telefonieren mit Händies, kaufen Aktien, surfen im Internet und jetten nach Honolulu. Heute ist der Hass auf Amerika nichts mehr als eine Hülse: ihr harter, ihr banaler Kern aber ist der Hass auf Israel. In Deutschland redet man aus einem Rest von historischem Schamgefühl nicht so gern darüber; in anderen Ländern wie Frankreich und Spanien, aber auch in England ist man da sehr viel offener.

Kommt dieser Hass aus dem Mitgefühl für die Palästinenser? Ich fürchte nicht. Das Leid der Palästinenser nämlich wird in genau dem Augenblick vollkommen uninteressant, wo nicht Juden an ihm schuld sind. Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang von Schatila reden. Im Jahre 1985 kam es in diesem Palästinenserlager, das im Libanon liegt, zu einem Massaker - wie auch in dem Lager Burj el-Barainjeh. Die Uno spricht von 635 Toten und 2500 Verletzten. Den Überlebenden wurde nicht einmal gestattet, die Leichen ihrer Angehörigen zu bergen. Die meisten Zeitungen befanden es nicht für nötig, über dieses Massaker zu berichten, denn es wurde von moslemischen Amal-Milizen in brüderlicher Zusammenarbeit mit der syrischen Armee verübt. Ganz anders verhielt es sich bei jenem Massenmord, den drei Jahre zuvor christliche Falangisten in ebenjenem Schatilah und in Sabra angerichtet hatten. Warum? Ganz einfach, bei diesem anderen Massaker standen israelische Soldaten daneben und schauten zu. Sie machten sich durch Nichtstun schuldig - und das Weltgewissen schrie auf.

Mein Beispiel (und ich könnte ihm noch viele anfügen) zeigt: das Leid der Palästinenser an sich ist den Europäern so gleichgültig wie eine Träne im Ozean. Über die Ufer tritt dieses Leidensmeer erst dann und überschwemmt alle Medienkanäle, wenn sich die Chance eröffnet, Israel zu beschuldigen. Ohne poetische Metaphern gesagt: Das Leid der Palästinenser ist nicht die Ursache des Antizionismus. Es ist lediglich ein Vorwand.

Lassen Sie mich nun nicht lange um meine These herumreden. Lassen Sie mich lieber drei schreckliche, pauschale, empörende Fragen stellen.

1.Könnte es sein, dass tief im inneren der europäischen Kollektivseele der uneingestandene Wunsch rumort, Israel möge von der Bildfläche verschwinden? Denn solange es dieses Land gibt, wird eine Wunde offen gehalten. Der Staat der Juden erinnert durch sein bloßes Dasein an ein moralisches Versagen: Hitlerdeutschland hat versucht, den perfekten Völkermord zu begehen. Dieser Versuch hat überall in Europa - außer in Dänemark, Italien und Bulgarien - willige Helfer gefunden. Mit anderen Worten, Israel stört. Es steht qua Existenz der Versöhnung mit der eigenen Geschichte im Wege.

2.Könnte es sein, dass deshalb viele Europäer ein unsichtbares Band der Sympathie mit Osama und Consorten verbindet? Denn wenn morgen oder übermorgen - was Gott verhüten möge - eine islamische Atombombe Israel zerstörte, fiele eine Zentnerlast von Europas Kollektivseele. Die Europäer, und namentlich die Deutschen, wären dann nicht mehr allein mit der Schuld, dass sie eine »Endlösung der Judenfrage« verübt haben. Die Araber wären endlich genauso schuldig; Auschwitz wäre kein singuläres Verbrechen mehr.

3.Könnte es sein, dass die Wut über den Einmarsch der Amerikaner und Briten im Irak auch daher rührte, dass hier ein Feind der Juden gefällt wurde? Noch 1991 hatte Saddam Hussein ja öffentlich erklärt: »Ich werde die Hälfte der Bevölkerung Israels mit chemischen Waffen verbrennen« und fest versprochen: »Ich werde Israel in ein Krematorium verwandeln.« Jeder bewusste Jude weiß, dass Saddam in einer Reihe mit Haman, Chmielnicki und den anderen großen Antisemiten der Geschichte steht - dass er, metaphysisch zu sprechen, vom »Samen Amaleks« abstammt. Könnte es sein, dass auch Nichtjuden das wissen?

Ich habe keine Ahnung, ob diese drei Fragen, die ich wie Pfeile von meinem rhethorischen Bogen abgeschossen habe, ins Schwarze treffen, ob sie auch nur in der Nähe der Wirklichkeit stecken geblieben sind. Vielleicht habe ich meinen Bogen sogar überspannt.

Auf alle Fälle sollen Sie aber folgendes wissen: sollte es tatsächlich die unbewusste Hoffnung geben, der Judenstaat möge von der seelischen Landkarte Europas verschwinden, so wird sich diese Hoffnung nicht erfüllen. Und an dieser Stelle wird ein Geständnis fällig. Mir wurde vor etwa eineinhalb Jahren schwarz vor Augen, und ich schrieb, der Zionismus sei gescheitert; Israel sei dem Untergang geweiht. Damals schwappte gerade eine blutige welle von Selbstmordanschlägen über dem Land zusammen, und die öffentliche Meinung in Europa reagierte mit einem Anfall von tiefer Genugtuung.

Hiermit widerrufe ich öffentlich und behaupte das Gegenteil: Israel wird nicht untergehen. Dieses winzige Land mit den großen Problemen hat immer noch eine ziemlich gut funktionierende und hoch motivierte Armee. Und was noch viel wichtiger ist: nichts spricht dafür, dass die Israelis sich vom Terror zermürben lassen - trotz alledem gibt es keine nennenswerte Auswanderungsbewegung. Das Land blutet nicht aus wie ein alter Eimer. Und am wichtigsten: die Israelis verfallen keineswegs dem Fanatismus - die Mehrheit von ihnen ist auch jetzt noch, mitten im Krieg, bereit, unter bestimmten Bedingungen die besetzten Gebiete zu räumen.

Noch etwas anderes sollen Sie bitte wissen: in den USA werden nicht die Lichter ausgehen. Alle Behauptungen, dass im »land of the free« die bürgerlichen Freiheiten in Gefahr seien, sind ein hysterischer Unsinn. Leute, die so reden, kennen wahrscheinlich die Geschichte nicht; zum Beispiel wissen sie nicht, dass Abraham Lincoln während des gesamten amerikanischen Bürgerkrieges die Habeas-Corpus-Akte aufhob. Und es gab niemanden, der die Freiheit mehr liebte als eben jener Lincoln, der Verfasser der wunderbaren Gettysburg Address, die in Amerika jedes Schulkind auswendig kann. Das bedeutet nicht, dass man heute nicht wach und misstrauisch bleiben müsste. Gewiss gibt es in den USA einen unangenehmen Vulgärpatriotismus, eine allzu simple Aufteilung der Welt in Gut und Böse. Aber so lange die Amerikaner keine Meldepflicht einführen, muss man sich um die amerikanische Demokratie keine sorgen machen.

Gestatten Sie mir zu guter Letzt noch ein Orakel, das auf alle Zweideutigkeiten verzichtet. Ich prophezeie Ihnen von diesem Ort aus, am 11. September 2003: die Amerikaner werden den Krieg gegen den Terror gewinnen, wie sie den kalten Krieg gegen die Sowjetunion gewonnen haben, und zwar noch zu meinen Lebzeiten. Sie haben sich nicht auf ein auswegloses Abenteuer eingelassen. Einen mathematischen Indikator dafür gibt es schon jetzt. 2001 töteten islamische Fundamentalisten tausende Amerikaner in New York und Washington, D.C. 2003 sind Amerikaner damit beschäftigt, islamische Fundamentalisten im Irak und in Afghanistan zu töten. Das halte ich für einen Fortschritt. Und wenn es den Amerikanern und Briten wirklich gelänge, den Irak in ein halbwegs zivilisiertes Modell für den Nahen Osten zu verwandeln, dann könnte diese Weltregion aus ihrer selbstverschuldeten Unmündigkeit ausbrechen.

An dieser Stelle möchte ich gern unfein werden und ein paar Zahlen nennen. Vor kurzem haben Forscher im Auftrag des »Daily Telegraph« und des »Spectator« in Bagdad eine Meinungsumfrage durchgeführt. Sie fanden heraus: obwohl viele Einwohner von Bagdad sich unsicherer fühlen als unter Saddam, obwohl sie sich über die Kriminalität auf den Straßen und Stromausfälle ärgern, sagte doch die Hälfte der Befragten, dass es richtig war, diesen Krieg zu führen. Die Hälfte! nur 27 Prozent fanden, dass er ungerecht war. Und noch mehr - nämlich 76 Prozent - wünschen, dass die Soldaten der angloamerikanischen Koalition länger im Land bleiben. Nur eine Minderheit will Saddam wiederhaben: sieben Prozent. Noch weniger möchte einen Mullah-Staat á la Iran: sechs Prozent. Viel mehr träumen von einer Demokratie westlichen Typus´: immerhin ein Drittel. 46 Prozent der Befragten gaben an, sie glaubten, ihr Leben werde in einem Jahr besser sein; 54 Prozent glauben, dass sie in fünf Jahren besser leben werden.

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Ich lebe zwar nicht in Bagdad, aber ich gehöre trotzdem zu den Optimisten. Der Nahe Osten, den wir kennen - eine von faschistischen Diktatoren, Feudalherrschern und Mullahs terrorisierte Region - wird in 50 Jahren nur noch im Geschichtsbuch zu finden sein. Unsere Kinder werden mit Namen wie »Osama bin Laden« und »Saddam Hussein« kaum noch etwas verbinden außer einer vagen Abscheu. Es wird einen Staat Palästina geben, und er wird keine von Al-Kaida oder der Hamas kontrollierte Mördergrube sein. Und die Israelis? Auch sie werden sich im Lauf des 21. Jahrhundert grundsätzlich ändern. Sie werden lernen, Kontrahenten bei Streitgesprächen nicht mehr niederzubrüllen und ihre Händies wenigstens in Ausnahmesituationen auszuschalten, sagen wir im Theater oder auf Beerdigungen.

Sie halten mich jetzt endgültig für verrückt? Schön, dann erzähle ich Ihnen eben einen Witz. Er spielt, wie es sich gehört, in einer Synagoge und geht so: jeden Schabbat kommt der arme Mosche in das Gotteshaus und betet: »Gott unserer Väter, gewähre mir einen Hauptgewinn in der Lotterie! Mein Weib grämt sich, meine sieben Kinder hungern, ich brauche Geld. Bitte!« so geht das zehn Jahre lang. Jeden Schabbat steht Mosche in der Synagoge und fleht Gott um einen Lottogewinn an. Sein Weib! Seine Kinder! Das schreiende Elend! Nach zehn Jahren wird es in der Synagoge plötzlich hell, und eine sonore Stimme spricht die geflügelten Worte: »Moischale, gib mir a Chance! Kojf dir a Los!« - Die Amerikaner haben sich nach der Katastrophe vom 11. September ein weltgeschichtliches Los gekauft. Es darf sich nicht als Niete erweisen. Es wird sich nicht als Niete erweisen. Ich danke Ihnen.

25.10.2003

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