Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

13.04.2004   13:05   +Feedback

Wohin der Wind weht

Das Letzte

Es stimmt nicht, dass die Medien für die Meinungsbildung verantwortlich sind, es ist der Mob, der eine Meinung hat, die von den Medien aufgenommen und verarbeitet wird. Theodor Herzl hat mal geschrieben, der Ort, »wo das Volk sich aufrichtig und einfach äußert«, sei »das Märchen und das Sprichwort«, beide seien antisemitisch. Einen anderen wichtigen Ort, an dem das Volk sich aufrichtig und einfach äußert, hat Herzl übersehen oder nicht sehen wollen: die Leserbriefseite.

Sich mal so richtig auskotzen…
Sich mal so richtig auskotzen:Für manche bleibt danur der Leserbrief

Hier findet man alles, was in sublimierter Form die Leitartikel füllt, in der Urform wieder, der Leserbrief ist sozusagen die Scheiße, mit der die Meinungsseiten gedüngt werden. Dabei spielt es keine Rolle, ob es Professoren sind, die sich in der FAZ ausmären, oder Prols, die sich in der Bildzeitung auskotzen.

Viele Redakteure trösten sich damit, nur Arbeitslose, Irre und pensionierte Studienräte würden Leserbriefe schreiben. Das mag stimmen, ist aber irrelevant. Denn diese Arbeitslosen, Irren und Pensionäre gehen auch zur Wahl, sie bestimmen mit, wer das Land regiert und wohin der Wind weht, der aus ihren Wohnküchen aufsteigt.

Da hat z.B. der Berliner Tagesspiegel am 15. März die Frage gestellt, ob Al Quaida jetzt Europa bedrohen würde. Angesichts der Anschläge von Istanbul und Madrid eine eher rhetorische Frage. Daraufhin hat sich der Tagesspiegel-Leser Joachim W. hingesetzt und einen Leserbrief geschrieben. Der las sich so:

Terrorismus: kein Mensch redet über die Ursachen. Ich wurde als Jugendlicher über Jahre sehr gedemütigt, ich weiß, worüber ich rede. Und ich glaube, wenn es diese Möglichkeit damals gegeben hätte (es sind 6o Jahre her), ich hätte Bomben geschmissen, auch bei der Möglichkeit, sich selbst dabei zu töten - sprich Selbstmordattentat. Will sagen: so lange die islamische, die arabische Welt so unendlich gedemütigt wird, Beispiel Palästina, wird es den so genannten Terrorismus geben. In die Enge getrieben, bleibt den Menschen doch nichts anderes übrig gegen die gewaltige Übermacht, ihre Menschenwürde zu behaupten. Das soll keine Rechtfertigung sein, eher ein Versuch zu verstehen.

So wie diese Sätze am 21.3. im TS standen, hätten sie auch von Jürgen Fliege, Eugen Drewermann oder Horst-Eberhard Richter sein können, einschließlich des idiotischen Schlusssatzes. Leider wurden den Lesern wichtige Informationen vorenthalten: Auf welche Weise wurde Joachim W. »über Jahre sehr gedemütigt«? Musste er als Kind gegen seinen Willen Spinat essen? Bekam er als Jugendlicher kein Moped geschenkt? Hat man ihn nicht zum Volkssturm geholt? Und warum hat er davon Abstand genommen, Bomben zu schmeißen? Aus Mangel an Gelegenheit oder Angst vor Strafe? Und wenn das, was Al Quaida macht, »so genannter Terrorismus« ist, was ist dann wirklicher Terrorismus?

Wenn Joachim W. auf der Autobahn von einem japanischen Kleinwagen überholt wird? Wenn er am Grabbeltisch im Sommerschlussverkauf von einer Türkenfamilie angerempelt wird? Wenn er von seiner Frau genötigt wird, sich beim Pinkeln hinzusetzen? Fest steht nur: Weil Joachim W. gedemütigt wurde, fühlt er sich der gedemütigten islamischen Welt nahe. Die so genannten Terroristen machen nur das, was er beinah auch gemacht hätte. Deswegen kann dies weder schlecht noch falsch sein.

Nachdem die Welt am 23.3. berichtet hatte, Israels Regierung wolle »alle Führer der Hamas töten«, verspürte Welt-Leser H.Sch. ein Unbehagen, das sich sofort in einem Leserbrief niederschlug:

Wie vereinbart sich das gezielte Töten mit der Religion des jüdischen Staates? Muss sich Israel wirklich wundern, wenn antijüdische Meinungen zunehmen? Religiöses Eifern auf der einen Seite und Gewalt ohne Grenzen auf der anderen Seite kennen wir ja schon von den USA. Glaubwürdig ist es nicht und sympathisch schon lange nicht. Ich verabscheue Terror, von beiden Seiten.

Was H.Sch. andeutet, ist eine weit verbreitete Haltung: Das gezielte Töten ist mit der »Religion des jüdischen Staates« unvereinbar, das Getötetwerden schon. Statt sich darüber zu beklagen, dass antisemitische Meinungen zunehmen, sollte Israel an der Grenze zu Palästina Welcome-Points einrichten, die Selbstmordattentäter freundlich begrüßen, sie zu den Einsatzorten eskortieren und deren Überreste mit allen Ehren den Angehörigen übergeben. Das wäre glaubwürdig und sympathisch. Und H.Sch. wäre zufrieden gestellt.

Auf einen Artikel zur Tötung von Scheich Jassin in der Berliner Zeitung am 23.3. schickte Leser Günther E. eine Mail an die Redaktion, in der er einen Blick zurück nach vorn riskierte:

Durch die Machtdemonstration Scharons werden fünf neue Terrorführer geboren werden, die nicht im Rollstuhl sitzen, die radikaler sein werden als Jassin es jemals sein konnte und die für möglichweise Tausende zivile Opfer auf der ganzen Welt sorgen werden. Scharon und sein mörderisches Kabinett tragen die Verantwortung für diese Eskalation und für jeden einzelnen Toten kommender Anschläge.

Wenn es um Saufen, Ficken und Juden geht, wird aus jedem Pinscher ein Rottweiler. Dass die Juden schon immer für alle Übel der Welt verantwortlich waren, ist ein alter Gemeinplatz, dass sie vorsorglich für jeden einzelnen Toten kommender Anschläge haftbar gemacht werden, bedeutet eine neue Qualität der Schuldzuweisung.

Nun könnte man fragen: Was war, bevor Scharon und sein mörderisches Kabinett an die Macht kamen? Gab es keinen Terror, keine Anschläge? Aber das wäre eine törichte Frage, denn der Antisemit legt sich die Fakten so zurecht, wie er sie grade braucht. Wichtiger wäre die Frage: Warum drucken die Zeitungen so einen Dreck ab?

Weil man dieselben Sätze, etwas feiner formuliert, in den Leitartikeln und Kommentaren findet, die von Profis geschrieben werden: Die so genannten Terroristen reagieren nur auf Demütigungen, die sie erleiden mussten, man muss über die Ursachen des Terrorismus sprechen, die Ungerechtigkeit in der Welt und die ungleiche Verteilung der Güter…

Und wenn morgen die Deutsche Bank in Frankfurt oder das Sony Center in Berlin angegriffen wird, werden die Leitartikel und die Leserbriefe genauso klingen. Ganz aufrichtig und ganz einfach. Wie es eben Volkes Art ist.

HMB, 13.4.2oo4

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