Sie haben das Recht zu schweigen. Henryk M. Broders Sparring-Arena

Henryk M. Broder

08.05.2004   13:02   +Feedback

Beni Frenkel: Island. Geysire. Uri Avnery.

Als ich noch bei meinen Eltern wohnte, habe ich mich jedes Jahr auf den Besuch eines besonders interessanten Gastes gefreut: auf Leo. Leo war und ist Kassierer in einem Warenhaus und in seiner Freizeit leidenschaftlicher Reiseführer in Island.

Jedesmal wenn Leo bei uns zu Besuch war, schwärmte er von Island: Geysire, heiße Quellen, einsame Landschaften. Das ging manchmal stundenlang. Leo konnte sich einfach nicht sattreden über das langweiligste Land der Welt. Wir, die Familie, hörten ihm höflich zu, unterbrachen ihn auch nicht - aber insgeheim schworen ein paar von uns, dieses Land nicht einmal mit einem geschenkten First-Class-Ticket zu besuchen. Doch Leo gefiel uns. Er war wie ein leises Radio, dem man während des Essens halb zuhört.

Einmal jedoch erwähnte Leo beiläufig, in Island gäbe es keinen einzigen Juden. Das war dann schon spannender. Ich kann mich deshalb noch an seine Worte erinnern (ich war damals etwa 10 Jahre alt), da ich im Religionsunterricht gerade den biblischen Satz lernte: »...und ich werde euch unter alle völker der Erde verstreuen«.

Der da sprach war Gott und der Anlass seines Zornes waren einmal mehr die Juden. Mein Religionslehrer zeigte mir den Globus und sagte mit ernster Stimme : »In jedem Land, das du auf hier diesem Globus siehst, leben Juden. Erst wenn der Messias uns erlöst, werden alle Juden wieder ins Gelobte Land zurückkehren.«

Eigentlich habe ich ein schlechtes Gedächtnis, doch an diese Religionsstunde kann ich mich noch gut erinnern. Zu Hause klaubte ich nämlich den Weltatlas meines Vaters aus dem Bücherregal und studierte die verschiedenen Länder. Bei jedem Land vesuchte ich mir vorzustellen, wie die Juden dort wohl lebten. Kenia, Dänemark. Burundi, Nepal… Und dann kam der Leo und erschütterte meinen Glauben mit der Bemerkung, in Island wohnten keine Juden! Kein einziger.

Nun, die Jahren verstrichen und irgendwie schaffte ich es, Island zu akzeptieren. Sei’s drum, sagte ich mir, in Island gibt’s halt keine Juden. Ist das so schlimm? Vielleicht war Island damals einfach noch nicht bevölkert, als Gott, der Allmächtige seinen Fluch aussprach.

Möglich wäre aber auch, dass Gott mit »...in alle Länder ....« nur die Festländer und nicht die Inseln meinte. Und schließlich erkannte ich in der jüdischen Nichtbesiedlung Islands einen Wesenszug Gottes: in Zeiten, in denen sich das jüdische Volk in größter Not befindet, erbarmt sich der Herr und schickt ihnen Linderung in Form einer Rettung. So auch hier: als Er davon sprach, das jüdische Volk in alle Länder der Erde zu verstreuen, hatte Er gleichzeitig wieder ein bisschen Erbarmen mit seinem auserwählten Volk: nach Island, nein, dorthin werde ich mein Volk nicht schicken. Dieses öde, langweilige Land ist nichts für Juden.

Und siehe da: meine Gotteszuversicht wurde belohnt. Es verstrichen nämlich noch einmal ein paar Jahre. Leo kam immer wieder und wieder. Erzählte von den Geysiren, heißen Quellen und der einsamen Landschaft… Doch irgendwann unterbrach er seine Ausführungen und sagte uns, er sei letztes Mal mit seiner Reisegruppe zu einem alten isländischen Friedhof gepilgert und hätte dort tatsächlich einen Davidstern auf einem Grabstein entdeckt!

Mein Atem blieb stehen! Gleich nach dem Dessert verschwand ich in mein Zimmer, setzte mich an den Schreibtisch und versank in langes Grübeln. Ich musste mein Islandbild komplett überarbeiten. Es stimmt zwar weiterhin, so schrieb ich auf ein Blatt, dass in island kein Jude lebt,aber die Möglichkeit besteht, dass wenigstens einer einmal dort gestorben ist.

Ja und dann vergingen halt nochmals ein paar Jahren, ich wohnte nicht mehr bei meinen Eltern und mein Haupt wurde immer kahler. Doch ich sollte noch einmal eine weitere Gottesdämmerung erfahren. Im Jahre 2002, im Sommer, gab es eine kleine Gruppierung »Gesellschaft Schweiz-Palästina«. Sie fiel vor allem dadurch auf, dass sie im Hauptbahnhof Zettel verteilten, auf denen sie zum Boykott israelischer Güter aufriefen.

Normalerweise juckt mich sowas nicht sonderlich. Ich bin von Natur aus sehr tolerant und verspühre keinen Groll gegen Spinner. Doch die Presseerklärung dieser Gruppe verwunderte mich sehr. Ich weiß nicht mehr, in welchem Zusammenhang dort geschrieben stand, dass es auch eine »Gesellschaft Island-Palästina« gäbe. Gründer und Präsident wäre ein jüdischer Israeli, der jetzt in Island wohne…..!!! Ist das nicht fantastisch? Es gibt tatsächlich einen Juden in Island. Wer hätte dies gedacht?

Lassen Sie mich bitte wiederholen: Es gibt einen Juden in Island. Und was macht er dort? Er setzt sich für die Palästinenser ein. Nicht Geysire, heiße Quellen und einsame Landschaften sind es, die seinen Tag ausfüllen, sondern die Palästinenser. Und ich habe endlich die Möglichkeit, die Metamorphose eines assimilierten Juden zu beobachten.

Die Assimilation der Juden begann ja vor mehr als 200 Jahren in Deutschland. Als sie die Ghettomauern durchbrachen und sich in den pulsierenden Städten niederließen, begann die Verwandlung vom vertriebenen Juden zum beneideten Juden. Zuerst fielen die Bärte ab, dann die übrigen Erkennungszeichen und schließlich die Namensveränderung in einen harmlosen christlichen Namen.

All das weiß man heutzutage von den Geschichtsbüchern. Doch wie sieht es in der Realität aus? Was muss ein Jude heutzutage machen, um bei der nichtjüdischen Bevölkerung richtig akzeptiert zu werden? Der jüdische Isländer gibt uns die Antwort: man gründet am besten eine Gesellschaft »pro Palästina« und verurteilt sämtliche Aktionen des israelischen Militärs, der Regierung und der Bevölkerung. Erst wenn man sich gegen die Scharon-Regierung stellt, werden einem sämtliche Türen geöffnet. Im besten Fall wird man sogar geliebt.

Ein gutes Beispiel, neben dem Isländer, ist Uri Avnery. Uri kommt aus Israel und ist so links von links, dass man eine neue Himmelsrichtung nach ihm benennen müsste. Uri verurteilt so ziemlich alles, was je eine israelische Regierung gemacht hat. Mit seinem weißen Bart, den blauen Augen und seinem akzentfreien Deutsch gilt Uri vielen Deutschen als zweiter Nathan oder zumindest als legitimen Nachfolger von Moses.

Auf seiner Homepage stehen unter anderem »80 Thesen für den Frieden im Nahen Osten«. Und als wäre er Martin Luther, stehen dort seine Gedanken und Glaubenssätze in einprägsamer Weise. Die 57. These lautet zum Beispiel: »57. das Oslo-Abkommmen hat positive und negative Eigenschaften.«

Wohl selten hat jemand in so klarer Sprache den Sachverhalt des Nahostkonfliktes dargelegt. In den restlichen 79 Thesen steht nichts Besonderes, außer, dass Arafat ein Halbheiliger und Scharon ein Halbteufel ist. Die Schuld liegt bei den Juden. Mehr muss man eigentlich gar nicht wissen. Der Uri, der weiß schon von was er spricht. Ist er nicht Jude? Lebt er nicht in Israel ? Also muss doch alles was er sagt auch stimmen.

Zu sagen aber, Uri wäre besonders »mutig«, ist eine Übertreibung. Wohl in keinem anderen Land als Israel darf man gegen die Juden schimpfen und wird darob auf die Schulter geklopft. Nein,der Uri ist einfach clever genug, in die Lücke des Anklägers zu springen und die offenen Anisemitenmäuler täglich zu füttern. Diese Arbeit muss nicht einmal anstrengend sein. Fakten werden nicht unbedingt verlangt und allzu viel Hintergrundinformationen stört nur. Was man will, ist einfach eine gesalzene Salve gegen die Israelis. Und das kann der Uri.

Seit 1995 erhält er deshalb jährlich zwei Friedenspreise: Ehrenbürgerschaft des Dorfes Abu-Ghosh bei Jerusalem, in Anerkennung seines Anteils an der Verhinderung der Vertreibung des Dorfes, 12. Dezember 1953. Erich-Maria-Remarque-Friedenspreis der Stadt Osnabrück , 21. Juni 1995. Ehrenbürgerschaft der Stadt Kafr Kassem, in Anerkennung seines Anteils an der Aufdeckung des Massakers, verliehen am 40. Jahrestag, 31. Oktober 1996. Aachener Friedenspreis (zusammen mit Gush Shalom), 1. September 1997. Kreisky-Preis für Verdienste um die Menschenrechte, 22. Januar 1998. Niedersachsen-Preis für hervorragende publizistische Leistungen, 11. Februar 1998. Palästinensischer Preis für Menschenrechte, verliehen von LAW, die palästinensische Gesellschaft für Menschenrechte, Jerusalem 7. Juni 1998. Alternativer Nobelpreis (Right Livelihood Award 2001), Uri und Rachel Avnery und Gush Shalom, 4.Oktober 2001, Verleihung 7. Dezember 2001, Ehrenmitgliedschaft von Rachel und Uri Avnery in der Erich Maria Remarque Gesellschaft e.V., Osnabrück, 2. Mai 2002 Carl-von-Ossietzky-Preis der Stadt Oldenburg, Verleihung 4. Mai 2002. Lew-Kopelew-Preis, Köln, Verleihung März 2003.

Ich wär der Letzte, der ihm diese Auszeichnungen nicht gönnen würde. Nur stört mich ein bisschen, dass auf seiner Homepage die Suchfunktion noch nicht richtig funktioniert. Gibt man dort »Vorzeigejud«, »Alibijud« oder »Lieblingsjud« ein, kommt immer die gleiche Antwort: Es wurden keine passenden Dokumente gefunden .

08.05.2004

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